35 Jahre Deutsche Einheit: Echter Reformschub oder Stohfeuer?
Exklusiv zum Tag der Deutschen Einheit hat e-fundresearch.com führende deutsche Volkswirte und Kapitalmarktstrategen befragt – darunter Experten von FERI, Metzler Asset Management, Berenberg, BayernInvest, DONNER & REUSCHEL, HANSAINVEST, Shareholder Value Management und Bankhaus Bauer. Ergebnis: Uneinigkeit darüber, ob der Reformschub eine echte Trendwende bringt oder nur ein Strohfeuer entfacht.
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| 03.10.2025 10:54 Uhr
35 Jahre nach der Wiedervereinigung steht Deutschland erneut vor einer wirtschaftspolitischen Bewährungsprobe. Die Bundesregierung spricht von einem „Herbst der Reformen“ und setzt auf milliardenschwere Investitionspakete. Doch ob daraus eine echte Trendwende entsteht, ist unter den von e-fundresearch.com befragten Experten umstritten.
„Bislang gibt es neue Sonderschulden in Billionenhöhe – Strukturreformen: Fehlanzeige“, warnt etwa Axel D. Angermann, Chefvolkswirt der FERI AG. Felix Schmidt, Senior Economist bei Berenberg, sieht zwar kurzfristige Impulse: „Die Lockerung der Schuldenbremse wird die Konjunktur ankurbeln – aber ohne begleitende Reformen droht ein teures Strohfeuer.“ Edgar Walk, Chefvolkswirt bei Metzler Asset Management, ergänzt: „Die politische Geschwindigkeit ist immer langsamer als die gewünschte Geschwindigkeit der Finanzmärkte.“
Die vollständigen Experteneinschätzungen im Zitate-Slider:
Die kompakten O-Töne verdeutlichen bereits die Spannweite der Positionen – von vorsichtigem Optimismus bis hin zu deutlicher Skepsis. Um die Argumente im Detail nachzulesen, finden Sie im Folgenden die ungekürzten Expertenstatements in voller Länge. Die e-fundresearch.com Redaktion wünscht ihren deutschen Lesern ein entspanntes Feiertagswochenende und gute Lektüre.
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Die erwartete konjunkturelle Belebung in Deutschland ist fast ausschließlich auf höhere staatliche Ausgaben im Rahmen des Investitionspaketes zurückzuführen. Ein selbsttragender Aufschwung – mit steigenden privatwirtschaftlichen Investitionen und einem dynamischeren privaten Konsum – ist bisher jedoch nicht absehbar. Die exportorientierte Industrie leidet unter der global schwachen Güternachfrage, die durch das Zollregime, andere Handelshemmnisse und die absehbare Wachstumsschwäche Chinas untermauert wird. Geopolitische Konflikte, hohe Preissteigerungsraten bei Waren des täglichen Bedarfs und zunehmende Sorgen um die Arbeitsplatzsicherheit bremsen die Kaufbereitschaft aus. Und die bisherigen wachstumsfördernden Maßnahmen der Bundesregierung reichen als Impulsgeber für einen stärkeren Aufschwung nicht aus. Vielmehr bedarf es konkreter Maßnahmen zur Erhöhung der Standortqualität, wie die Senkung der Bürokratie- und Abgabenlast für Unternehmen, die Stabilisierung der Sozialversicherungsbeiträge, die Beschleunigung der Verwaltung, den Verzicht auf Steuerhöhungen, höhere Anreize für Mehrarbeit, die Erleichterung qualifizierter Zuwanderung oder das Forcieren neuer Handelsabkommen.
Welche neue Wirtschaftspolitik?, fragt man sich unwillkürlich. Bislang gibt es neue Sonderschulden in Billionenhöhe und für 2026 einen Haushaltsentwurf, der alle Befürchtungen vom Verschiebebahnhof bestätigt. Strukturreformen: Fehlanzeige. Der Reformbedarf ist seit langem klar – Stichworte: Bürokratieabbau, konsequente Digitalisierung, bessere Bildungschancen für benachteiligte Kinder, einfache Möglichkeiten der Zuwanderung arbeitswilliger und -fähiger Menschen, grundlegende Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer mit einer deutlichen Entlastung für Bürger und Unternehmen, Reform der Sozialversicherungssysteme. Möglich, dass die Regierung demnächst Reformen vorlegt, aber es deutet derzeit wenig darauf hin. Entscheidend wäre gar nicht so sehr, welche Reform als erstes angegangen wird. Entscheidend wäre, dass die Regierung als Ganzes das eindeutige Signal aussendet: Wir wollen Wachstumskräfte freisetzen und stellen Verteilungsdiskussionen vorerst zurück. Und: Regierungshandeln sollte schnell zu greifbaren Ergebnissen kommen. Geschieht dies nicht, bleibt es bei unserer Wachstumsprognose von weniger als 1% im Jahr 2026.
Edgar Walk, Chefvolkswirt, Metzler Asset Management
Grundsätzlich stottert der Exportmotor aufgrund der erdrückenden Konkurrenz aus China und dem US-Handelskonflikt – ohne die staatlichen Mehrausgaben wäre die deutsche Wirtschaft schon jetzt in einer gefährlichen Abwärtsspirale ohne jegliche Nachfrageimpulse. Die Bundesregierung feiert das Sondervermögen aber etwas zu sehr als Investitionswunder. Bei näherem Blick zeigt sich: Oft werden Mittel nur umgeschichtet, während echte Mehrinvestitionen ausbleiben. Autobahnbrücken, Schienen und Breitband erscheinen in den Sondertöpfen, verschwinden aber zeitgleich aus dem Kernhaushalt. Staatliche Investitionen schaffen einen langanhaltenden Wachstumsimpuls, während staatlicher Konsum nur hohe Inflationsrisiken birgt. Für 2026 sehen wir daher steigende Inflationsrisiken und sogar Leitzinserhöhungen der EZB bis auf 2,5 %. Deutschland braucht über neue Schulden hinaus eine echte Reformagenda, die Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität stärkt. Die Regierung hat im Koalitionsvertrag hierfür viele sinnvolle Ansätze vereinbart und arbeitet daran, diese umzusetzen. Die politische Geschwindigkeit ist jedoch immer langsamer als die gewünschte Geschwindigkeit der Finanzmärkte. Insgesamt also ein positiver Ausblick – jedoch auch mit Schattenseiten.
Die Lockerung der Schuldenbremse wird in den kommenden Jahren die Konjunktur ankurbeln. Damit die Mehrausgaben jedoch nicht nur ein teures Strohfeuer erzeugen, sondern das Wachstum nachhaltig stärken, sind begleitende Reformen erforderlich. Die Liste der strukturellen Probleme ist lang. Die Wirtschaft leidet unter zu viel Bürokratie, dem Fachkräftemangel, hohen Energiekosten sowie den steigenden Lohnnebenkosten. Erste Reformen der Regierung wie der Investitionsbooster und die Energiesteuersenkung für Unternehmen gehen in die richtige Richtung. Teure Wahlgeschenke wie die Mütterrente, Steuervergünstigung für Agrardiesel und Mehrwertsteuersenkung für die Gastronomie erzeugen hingegen kein Wachstum und belasten die Kassen unnötig. Insgesamt ist im „Herbst der Reformen“ bisher noch deutlich zu wenig geschehen. Die Regierung muss Meinungsverschiedenheiten beiseiteschieben und bei den drängenden Themen im Sinne Deutschlands voranschreiten. Hierzu zählt insbesondere eine Reform der Renten-, Pflege- und Krankenversicherung. Zudem wird es entscheidend sein, dass das Sondervermögen auch wirklich für zusätzliche Infrastrukturinvestitionen genutzt wird und nicht, um Haushaltslöcher zu stopfen.
Heiko Böhmer, Kapitalmarktstratege, Shareholder Value Management
Die Zeitenwende hat lange auf sich warten lassen – zumindest im wirtschaftlichen Bereich. Von der Regierung Scholz angekündigt wirkt es jetzt so, dass Kanzler Merz diese Zeitenwende wirklich vollzieht und dabei die Wirtschaft mit einbezieht.
Die klare Erkenntnis: Die USA sind mit Präsident Donald Trump in seiner zweiten Amtszeit kein vollwertiger Bündnispartner mehr. Das hat viele Regierungen in Europa angetrieben, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Oft gilt hier das Motto: „Viel hilft viel.“ Bezogen auf das Investitionsvolumen von 500 Mrd. Euro von Seiten der Bundesregierung auf Sicht der kommenden zehn Jahre mag das sogar stimmen.
Allerdings fehlen bislang noch die großen Linien der Veränderungen. Der „Herbst der Reformen“ hat kalendarisch zwar begonnen – allein die großen Reformen sind bislang nicht erkennbar. Hier agiert eine Koalition auf Augenhöhe – wobei die SPD vom Ergebnis her klar der Juniorpartner ist. Und so lange soziale Themen die Diskussion bestimmen und massive wirtschaftliche Investitionen eher kritisch gesehen werden und das große Thema der ausufernden Rentenprobleme nicht aktiv angegangen wird, so lange werden wohl noch viele Jahreszeiten kommen, in denen Reformen zumindest angekündigt werden.
Christian Wieschnewski, Portfoliomanager, Bankhaus Bauer
Von einer echten Trendwende zu sprechen, halte ich für verfrüht. Viele der angekündigten Reformen klingen vertraut – gerade beim Bürokratieabbau hören wir seit Jahren große Worte, aber erleben kaum Taten. Deutschland fährt zu sehr im Rückspiegel: Man vertraut auf den Glanz von ‚Made in Germany‘, während andere längst mit Vollgas in die Zukunft investieren. Das größte Risiko ist nicht ein Mangel an Programmen, sondern eine Mentalität der Selbstzufriedenheit. Politische Maßnahmen sind wichtig, doch entscheidend ist ein gesellschaftlicher Wandel: Wir brauchen wieder Mut, Tempo und den Willen, Dinge anzupacken, Risiken einzugehen und Innovation zu fördern. Hinzu kommt, dass Deutschland allein im globalen Wettbewerb nur begrenzt bestehen kann. Entscheidend wäre, dass die Eurozone als geschlossene Einheit auftritt, um gegenüber den USA und China Gewicht zu haben – doch angesichts der sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Strukturen in Europa erscheint das unrealistisch. Ohne echten europäischen Schulterschluss und konsequente Umsetzung der Reformen droht die aktuelle Erholung daher nur eine Verschnaufpause zu bleiben.
Dr. Jörg Stotz, Sprecher der Geschäftsführung, HANSAINVEST Hanseatische Investment-GmbH
Basis einer zukunftsfähigen Wirtschaft sind Investitionen. Die öffentlichen Investitionsvorhaben der Regierung sind also löblich, besorgniserregend ist aber eher die Entwicklung der privaten Investitionen. Die sind nämlich im Vergleich zu 2019 und anderen Industrieländern teils klar gesunken. Immerhin: Neben ökonomischen Einflussfaktoren wie Lohn- und Energiekosten, Konjunktur oder der Wettbewerbssituation ist ein Großteil der privaten Investitionshemmnisse – das zeigen Umfragen von KfW, Bundesbank, ifo und EIB einheitlich – hausgemacht: gesetzliche und regulatorische Vorgaben, Abgaben- und Steuerlast und die öffentliche Verwaltung. Das hat die Regierung erkannt, nun muss sie liefern.
Ein weiteres entscheidendes Investitionshemmnis in den Umfragen: die unsicheren Finanzierungsbedingungen. Hier können Fonds einspringen. Die Regierung will darum vereinzelt die Tür für Öffentlich-Private-Partnerschaften öffnen, mit dem StoFöG den Standort für Venture-Capital- und Private-Debt-Fonds stärken und Sparer über eine Reform der privaten Altersvorsorge an Fonds heranführen. Private Investitionen sind also die Basis eines wettbewerbs- und zukunftsfähigen Deutschlands – und der Fonds ist dafür der Möglichmacher.
Daniel Kerbach, Chief Investment Officer, Head Investment Management, BayernInvest Kapitalverwaltungsgesellschaft mbH
Mit einem BIP-Wachstum von voraussichtlich 0,2 Prozent in diesem Jahr und etwas über 1 Prozent in 2026, ist ein Aufschwung in Deutschland vorerst nicht in Sicht. Die konjunkturelle Erholung ist schwach und sie steht auf wackligen Beinen, denn das weltwirtschaftliche Umfeld ist fragil: drohende US-Zölle und ein starker Euro belasten die deutsche Industrie. Hinzu kommen die altbekannten hausgemachten Probleme. Hohe Energiepreise und behördliche Auflagen bremsen. Bewilligte Mittel stecken in Planungs- und Genehmigungsverfahren fest, der Baufortschritt stockt. So droht auch dieses Mal wieder zwischen Ankündigung und Realisierung der Reformen und des viel beschworenen Investitionsschubs viel Zeit zu vergehen.
Damit 2026 eine Kehrtwende gelingt, braucht es jedoch Tempo: einen schlagkräftigen Deutschlandfonds, verbindliche Projektlisten, zielgerichtete Zukunftsinvestitionen und eine befristete Aussetzung bürokratischer Hürden. Die Chancen sind da, aber es hapert an der Umsetzung. Die nächsten Monate entscheiden, ob die Aufbruchstimmung trägt oder kippt – derzeit kommt zu wenig und es geht zu langsam.
Teilnehmer der aktuellen e-fundresearch.com #EconomicsForum Umfrage
Heiko Böhmer, Kapitalmarktstratege, Shareholder Value Management
Dr. Felix Schmidt, Senior Economist, Berenberg
Daniel Kerbach, Chief Investment Officer, Head Investment Management, BayernInvest Kapitalverwaltungsgesellschaft mbH
Christian Wieschnewski, Portfoliomanager, Bankhaus Bauer
Dr. Jörg Stotz, Sprecher der Geschäftsführung, HANSAINVEST Hanseatische Investment-GmbH
Carsten Mumm, Chefvolkswirt, DONNER & REUSCHEL
Axel D. Angermann, Chef-Volkswirt, FERI AG
Edgar Walk, Chefvolkswirt, Metzler Asset Management
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