Die Sicht des CIO | 'Gini' ist aus der Flasche

AXA Investment Managers | 15.07.2025 07:39 Uhr
Chris Iggo, CIO Core Investments, AXA Investment Managers / © e-fundresearch.com / AXA Investment Managers
Chris Iggo, CIO Core Investments, AXA Investment Managers / © e-fundresearch.com / AXA Investment Managers

Die US-Wirtschaft straft viele klassische Analysen Lügen. Vielleicht wird die Bedeutung der Einkommensungleichheit für die Wirtschaft nicht verstanden. Reichere Haushalte profitieren von Anlageerträgen und leiden weniger unter höheren Zinsen. Wenn die Fed die Märkte stützt, kommt die Erholung zunächst vor allem den Reichen zugute. Das verhindert dann eine Rezession. Trumps One Big Beautiful Bill könnte die Einkommensungleichheit verstärken, weil die Auswirkungen auf die Haushalte von deren Einkommen und Vermögen abhängen. Eine Rezession würde die Märkte und damit auch die reicheren Haushalte treffen. Einstweilen herrscht aber Hausse. Allerdings könnten neue Zolldrohungen und Angriffe auf die Fed den Dollar weiter schwächen und die Inflationserwartungen anheizen.

Rezessionsgeschützt?

Trotz der politischen Unsicherheit, des eskalierenden Konflikts im Nahen Osten und der niedrigeren Konsensprognosen für das Wirtschaftswachstum legten Aktien zuletzt weltweit zu. Eine Rezession in den USA – mit potenziell großen Folgen für die Märkte – bleibt unwahrscheinlich. Viele Beobachter verwundert das. Seit Corona sind die verfügbaren Realeinkommen kaum gestiegen, nämlich um weniger als 1% p.a. gegenüber 2,8% in den 50 Jahren zuvor. Hinzu kam die massive Straffung der Geldpolitik, die Kreditnehmern das Leben nicht gerade leichter macht. Im Schnitt beträgt der 30-jährige Hypothekenzins jetzt 6,75%, gegenüber 3% vor den Zinserhöhungen. Und dann müssen die Verbraucher auch noch mehr für Importgüter bezahlen.

So einfach ist es nicht

Wir neigen dazu, Volkswirtschaften als homogene Einheiten zu betrachten. Tatsächlich sind sie aber sehr komplex. Sie bestehen aus vielen Unternehmen, Institutionen und Haushalten mit fast unendlich vielen Verbindungen untereinander. Nicht alles muss sich gleich entwickeln. So ist das BIP in den letzten zehn Jahren zwar um 24% gestiegen, doch blieb die Industrieproduktion nahezu unverändert. Die Herausforderungen für die Haushalte sind sehr unterschiedlich – je nachdem, wie hoch ihre Einkommen und Vermögen sind. Vieles macht den Haushalten das Leben schwer – steigende Lebenshaltungskosten, immer mehr prekäre Arbeitsverhältnisse, höhere Zinsen –, sodass man sich fragt, warum die Wirtschaft trotzdem wächst. Entscheidend dafür ist, dass nicht alle gleich viel verdienen. Eigentlich ist das eine Binsenweisheit, aber eine mit weitreichenden Konsequenzen. In den USA gilt das erst recht, da Einkommensungleichheit hier große soziale, politische und wirtschaftliche Folgen hat.

Die Märkte bestimmen die Wirtschaft

Nach den offiziellen Zahlen ist das Durchschnittseinkommen der 20% reichsten US-Haushalte von 2003 bis 2023 um 32% gestiegen (neuere Zahlen liegen nicht vor). Das Durchschnittseinkommen der 20% ärmsten legte hingegen nur um 12% zu, und das der 20% in der Mitte – der viel beschworenen Mittelschicht – um 17%. Die Reichen wurden zwar reicher, aber die Realeinkommen der Armen stiegen in den letzten zehn Jahren kaum. Ihre Ausgaben sorgen ganz sicher nicht für Wirtschaftswachstum, und das Schicksal der Ärmsten löst auch keine Rezessionen aus. Die jetzt anstehenden Zölle und Steuer­senkungen dürften die Einkommensungleichheit weiter verschärfen.

Dabei leben die Reichen nicht allein von ihren Arbeitseinkommen. Sie besitzen auch häufiger Aktien, Anleihen und Immobilien. Damit erzielen sie laufende Erträge und verbuchen außerdem Kursgewinne. Nach den offiziellen Zahlen sind die Wertpapiererträge in den letzten 50 Jahren im Schnitt um 6,2% p.a. gestiegen, die Arbeitseinkommen aber nur um 5,7%. Die Reichen verdienen mehr, und ihre Einkommen steigen stärker. Hinzu kommen die laufenden Erträge und der Wertzuwachs ihrer Finanzanlagen und Immobilien. Das ändert sich nur bei einer Marktkorrektur. Die Kausalkette ist eindeutig: Bei einer Marktkorrektur fallen laufende Erträge und Kurse, es wird weniger Geld ausgegeben, und es kommt zu einer Rezession. Wenn aber die Kurse zulegen, steigen die Kapitalerträge. Dann geben die Reichen wieder mehr Geld aus und die Wirtschaft wächst.

Genau das erleben wir jetzt. Ärmere Haushalte dürften kaum von steigenden Technologie­aktien profitieren, reichere hingegen schon. In ihren 401k-Altersvorsorgeplänen und Wert­papierportfolios sind diese Titel enthalten. Ohne einen Kurseinbruch gibt es wohl keine Rezession, und ein solcher Einbruch erfordert wiederum einen Schock – etwa eine Straffung der Geldpolitik oder eine Vertrauenskrise. Ich rechne nicht damit, dass die Fed die Zinsen erneut anhebt, und Vertrauenskrisen sind nicht leicht zu prognostizieren. Außerdem sind sie oft nur von kurzer Dauer; man denke etwa an die Tage nach dem 2. April. Kommen wir daher noch einmal auf Corona zurück: Die schnelle Erholung nach dem Lockdownschock war vor allem der Geld- und Fiskalpolitik zu verdanken. Sie ermöglichte eine schnelle Erholung der Märkte, zum Nutzen der reicheren Haushalte. Dabei hatten doch eigentlich alle mit einem langen und heftigen Konjunktureinbruch gerechnet.

Mehr oder weniger gleich

Die USA sind extrem. Der Gini-Koeffizient misst die Einkommensungleichheit auf einer Skala von 0 (völlige Gleichheit) bis 1 (völlige Ungleichheit). Die Weltbank macht daraus des Gini-Index, mit einer Skala von 0 bis 100. Für die USA hat sie 2023 einen Wert von 41,8 geschätzt. Höher ist die Ungleichheit laut Weltbank etwa in Südafrika (63,0), Brasilien (51,6) und der Türkei (44,5), niedriger in Großbritannien (32,4), Frankreich (31,2) und Norwegen (26,9). Wenn die Einkommen weniger stark voneinander abweichen, trifft ein Realeinkommensschock (wie der Energiepreisschock in Europa 2022) mehr Haushalte. Der deutsche BIP-Rückgang seit 2022 lässt sich zumindest teilweise so erklären, wobei natürlich auch andere Faktoren eine Rolle spielten. Die derzeitigen US-Haushaltspläne werden die Einkommensungleichheit bestenfalls verfestigen. Die USA dürften weiterhin stark von den Finanzmärkten und von hohen Gewinnen der Technologieunternehmen abhängen. In einer ungleichen Gesellschaft profitieren nicht unbedingt alle von einem Aufschwung – doch in einer Gesellschaft mit mehr Gleichheit kann ein plötzlicher Schock alle nach unten reißen. In den sozialen Marktwirtschaften Europas bemüht man sich um weniger Ungleichheit, muss das aber irgendwie mit einer wachstumsfreundlichen Politik in Einklang bringen. In den USA setzt man unterdessen vor allem auf mehr Wachstum und versucht, die Ungleichheit mit populistischen Versprechen zu übertünchen.

Positives Momentum

Meist befinden wir uns nicht in der Rezession. Positive Rückkopplungseffekte sorgen in den USA für hohe Aktienerträge und starkes Wirtschaftswachstum. In den USA sind Aktien daher höher bewertet als in allen anderen Ländern, auch weil so viel ausländisches Kapital ins Land fließt. Nach den jüngsten Kennzahlen ist das Aktienmomentum über 1 Monat und 3 Monate so hoch wie in kaum einem der 22 anderen betrachteten Länder; lediglich in Korea und Israel ist es noch stärker. Zuletzt ist diese Kennzahl allerdings gefallen, was in nächster Zeit für einen gewissen Minderertrag internationaler Aktien spricht. Aber im Grunde kommt es auf die Stimmung an, und die Anleger scheinen die chaotische Politik zu verzeihen.

Aber hohe Bewertungen

Viel habe ich über Bewertungen geschrieben. Bei AXA IM wollen wir daneben aber stets auch Konjunktur, Marktstimmung und Markttechnik berücksichtigen. Manche Assetklassen sind dann teuer, wenn die Konjunktur stark ist (oder sich wichtige Fundamentaldaten wie Gewinne und Konjunktur gut entwickeln). Ich habe mir eine Reihe von Bewertungskennziffern für Staatsanleihen, Unternehmensanleihen und Aktien angesehen und sie mit ihrer Verteilung in den letzten 25 Jahren verglichen. Gemessen an Realzinsen, Steigung der Zinsstrukturkurve, Credit Spreads, Kurs-Gewinn-Verhältnissen und Dividendenrenditen scheinen nur wenige Assetklassen zurzeit günstig. Am niedrigsten sind die Bewertungen meist in Großbritannien, ob bei Aktien, lang laufenden Staatsanleihen, Linkern und Unternehmensanleihen. Angesichts des Umfelds – mit Brexit, schwachem Wachstum, anhaltender Inflation und den immer schlechteren Staatsfinanzen – überrascht das nicht. Aber auch kontinentaleuropäische Aktien scheinen (gemessen an den Dividendenrenditen) günstig, und die Realzinsen sind recht ordentlich.

Der politische Preis

Wenig überraschend ist auch, welche Assetklassen demnach teuer erscheinen – nämlich US-Aktien und Credits generell. Die amerikanische Sonderstellung ist in den Bewertungen berücksichtigt. Die Gewinne je Aktie müssen sogar noch stärker steigen, als die Analysten zurzeit erwarten, um die derzeitigen Kurs-Gewinn-Verhältnisse zu rechtfertigen (zumal sie stets zu ihrem Langfristdurchschnitt zurückkehren können). Das politische Drängen auf niedrigere Steuern und Deregulierung spricht eher für hohe Kapitalerträge als hohe Arbeitseinkommen. Die Einkommensungleichheit könnte sich dadurch weiter verstärken, und die reicheren Haushalte könnten noch mehr Geld zum Ausgeben haben. Wie soll es weitergehen? Rezessionen hatten stets niedrigere Gewinnmargen und Einkommen zur Folge, aber die USA scheinen immer besser dagegen gefeit. Die übrigen Länder müssen hingegen mit schwachem Wachstum, strukturellen Investitions- und Innovationshürden und den Belastungen einer hohen Staatsverschuldung zurechtkommen. In den USA steigt die Staatsverschuldung zwar auch immer weiter, aber das ist kein so großes Problem. Die übrigen Länder finanzieren die USA, und die hoch verschuldete US-Wirtschaft mit ihrer großen sozialen Ungleichheit wächst immer weiter. Ich verstehe überhaupt nicht, warum Trump das stören will.

Trump und die Märkte (mal wieder)

Die Zolldrohungen von dieser Woche und Trumps ständige Angriffe auf Notenbankchef Jerome Powell könnten am Ende niemandem mehr schaden als den USA selbst. Die Break-even-Inflation steigt allmählich. Der 5-Jahres-5-Jahres-Inflationsswap legt weiter zu, der Dollar wertet wieder ab, und selbst der Bitcoin testet neue Höchststände. Nach dem Protokoll der Offenmarktausschusssitzung vom 17. und 18. Juni fürchtet die Fed eine steigende Inflation, selbst wenn Zölle die Preise nur vorübergehend treiben. Erst hat Präsident Trump ein Haushaltsgesetz unterstützt, durch das die US-Schulden um viele Billionen Dollar steigen, und jetzt fordert er niedrigere Leitzinsen, damit der Schuldendienst billiger wird. Anleger sollte diese Forderung nach einem Primat der Fiskalpolitik zum Nachdenken bringen. Es drohen höhere Renditen, ein schwächerer Dollar, eine höhere Inflation und irgendwann Kursverluste bei Unternehmensanleihen und Aktien. Viele Anleger setzen auf Unternehmensanleihen, aber nach einem Bloomberg-Artikel von dieser Woche immer häufiger gehebelt mit Credit Default Swaps. Das Verlustrisiko steigt, ausgelöst etwa durch Zölle oder die Fed. Nach den guten Zeiten für risikobehaftete Wertpapiere sollten taktische Investoren vielleicht wieder konservativer werden.

Von Chris Iggo, CIO Core Investments, AXA Investment Managers

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Performancedaten/Quellen: LSEG Workspace Datastream, ICE Data Services, Bloomberg, AXA IM, Stand 10. Juli 2025, falls nicht anders angegeben. Die Wertentwicklung der Vergangenheit ist kein Hinweis auf künftige Erträge.

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