"Die Politiker im Westen diskutieren etwas, das noch vor zwei Wochen undenkbar war: ein Embargo gegen russische Energie. Doch die Umsetzung eines solchen Embargos erfordert einen Vertrauensvorschuss. Europa hat sich in eine massive Abhängigkeit von russischer Energie begeben und Putin weiss das sehr wohl. Kaum im Einklang mit der Theorie des Verrückten, wählte er für seinen Angriff den Moment, in dem Europa am meisten abhängig ist. Mit niedrigen Gasvorräten, einer bereits sehr hohen Inflation und einer Wirtschaft, die den Pandemieschock gerade erst überwunden hat, wären die Kosten des Embargos für Europa nicht viel weniger brutal als für Russland. Noch gestern hat sich der deutsche Finanzminister Habeck gegen das Embargo ausgesprochen.
Die Zeit, in der man sich zwischen Rezession und ständiger Aggression entscheiden muss, rückt jedoch schnell näher und angesichts einer solchen Entscheidung könnte man einen Vertrauensvorschuss in Anspruch nehmen. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass, wenn es etwas gibt, das Putins Invasion und seine zukünftigen aggressiven Pläne stoppen könnte, es das Energieembargo ist. Fossile Brennstoffe machen 40 % des russischen Staatshaushalts aus und Europa ist bei weitem der grösste Abnehmer. Ohne die Verkäufe an dieEU könnte Putins Einfluss nicht lange bestehen bleiben: Abgesehen von einem kostspieligen Krieg, der Bezahlung von Soldaten, Geheimdiensten und Bereitschaftspolizei würde es schwer werden, die Menschen ruhig zu halten oder zumindest zum Schweigen zu bringen. Ziemlich sicher ist auch, dass das Embargo die Energiepreise in der EU in ungeahnte Höhen treiben und die übermässig exponierten EU-Volkswirtschaften in eine Rezession mit beschleunigter Inflation stürzen würde. Der Zeitpunkt, an dem sich die EU-Politiker zwischen Stagflation und Frieden auf der einen und Wirtschaftswachstum und ständiger Aggression auf der anderen Seite entscheiden müssen, rückt also schnell näher. Keine dieser beiden Aussichten ist verlockend, aber die erstere ist sowohl aus moralischen als auch aus wirtschaftlichen Gründen dominierend, wenn man lange genug hinschaut."
Matteo Cominetta, Senior Economist, Barings Investment Institute