Natixis: "Brexit könnte Paradigmenwechsel auslösen"

Da sich Brexit-Befürworter und -Gegner immer hitzigere Debatten liefern, haben Experten von Natixis Asset Management die volkswirtschaftlichen Auswirkungen beider Optionen sowie deren Folgen für die Finanzmärkte untersucht. Die Analysen deuten darauf hin, dass ein EU-Austritt Großbritanniens sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht einen grundlegenden Paradigmenwechsel in Europa zur Folge hätte. Natixis Investment Managers | 02.06.2016 12:35 Uhr
Philippe Waechter, Director of Economic Research, Natixis Global Asset Management / ©  Natixis
Philippe Waechter, Director of Economic Research, Natixis Global Asset Management / © Natixis
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Eine große Herausforderung für Europa

Laut Philippe Waechter, Director of Economic Research, wirft das Referendum viele Fragen zu den möglichen wirtschaftlichen und politischen Folgen für Großbritannien – aber auch für die restliche Europäische Union – auf. „Dieses Referendum findet in einer Zeit statt, in der man sich in Europa große Sorgen macht. Schließlich ist der Kontinent von dem dynamischen Wachstum und der Expansion, die vor der Krise des Jahres 2008 zu beobachten waren, noch weit entfernt. Die Folgen sind eine hohe Arbeitslosigkeit und damit auch die Gefahr sozialer und politischer Instabilität“, führt er aus. Obwohl die Entscheidung der Wähler in erster Linie politischer Natur ist, wird sie auch grundlegende wirtschaftliche Auswirkungen haben. Ein EU-Austritt Großbritanniens würde für dort ansässige, international ausgerichtete Unternehmen erhebliche Probleme mit sich bringen. Investitionen in Großbritannien werden sowohl durch die Flexibilität der britischen Wirtschaft als auch durch deren unmittelbaren Zugang zum Binnenmarkt angezogen. Ein Brexit würde diese Voraussetzungen jedoch grundlegend ändern, weil dieser Zugang zum Binnenmarkt dann – zumindest für einen gewissen Zeitraum – wegfallen würde. Deshalb könnte ein Austritt Großbritanniens aus der EU dazu führen, dass Direktinvestitionen in Großbritannien zum Erliegen kommen, bis sich bei den Verhandlungen mit der Europäischen Union konkrete Fortschritte abzeichnen. „Der Ausgang dieser Verhandlungen ist jedoch sehr unsicher“, fügt Philippe Waechter hinzu.

„Falls Großbritannien die Auswirkungen des Brexit auf den Handel und damit auch auf die Konjunktur und die Beschäftigungslage begrenzen möchte, wird es ein neues Wirtschaftsmodell entwickeln müssen. Aber das wird dauern und die Wirtschaft des Landes belasten.“ Der Finanzsektor, der rund zehn Prozent des britischen BIP ausmacht, würde ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Die geänderten Voraussetzungen, die ein EU-Austritt Großbritanniens mit sich bringen würde, würden den Zugang des britischen Finanzsystems zu den finanziellen Strukturen des Euroraums beeinträchtigen. So könnte der Finanzplatz London einen Großteil der in Euro lautenden Handelsaktivitäten, die bisher noch dort abgewickelt werden, verlieren. Darüber hinaus wäre damit zu rechnen, dass viele Europäer, die sich in London niedergelassen haben, von dort wegziehen werden. Ein Brexit könnte also auch über die reinen Bankenaktivitäten hinaus schwerwiegende Auswirkungen haben. So würde sich die Bevölkerungsstruktur ändern, was die sehr dynamische Wirtschaft Londons und damit auch die ganz Großbritanniens belasten würde. Aus politischer Perspektive dürften diese konjunkturellen Aspekte sogar noch gravierendere Folgen haben. Schließlich wäre Großbritannien im Falle eines Brexit bei Verhandlungen über alle politischen und strategischen Fragen weltweit auf sich gestellt und hätte nicht länger die Unterstützung sowie die Sicherheit der EU hinter sich. Dadurch würde die politische Bedeutung Großbritanniens sicherlich beeinträchtigt werden.

Gleichzeitig würde ein Brexit auch innerhalb der Europäischen Union ein hohes Maß an Unsicherheit mit sich bringen. Dadurch würde nämlich dem vermeintlichen Gefühl der Unumkehrbarkeit, die seit dem Beginn des europäischen Integrationsprozesses vorherrscht, letztendlich eine Absage erteilt. „Während man noch vor einem Jahr einen möglichen Ausschluss Griechenlands grundsätzlich als Strafe betrachtet hatte, würde man eine Entscheidung Großbritanniens für einen Austritt eher als eine Art ‚Scheidungseinreichung‘ bewerten“, führt Philippe Waechter aus. „Eine solche Entscheidung hätte deshalb eine wesentlich größere Wirkung und könnte auch andere Staaten dazu veranlassen, aus der Europäischen Union auszuscheiden.“ Aus diesem Grund könnte man einen Brexit auch als Gelegenheit betrachten, die Struktur, den Umfang und die weitere Entwicklung innerhalb der Europäischen Union grundlegend zu modifizieren. „Deshalb ist politische Entschlossenheit unerlässlich – und zwar unabhängig davon, ob es nun zu einem EU-Austritt kommt oder nicht. Selbst wenn Großbritannien in der EU bleiben sollte, weil die Risiken eines Brexit schlicht zu groß wären, werden sich die Europäer hoffentlich dafür einsetzen, die Europäische Union zu stärken. Damit hätten die Briten dann auch wieder einmal den erforderlichen Impuls gegeben, um die europäische Integration voranzutreiben“, schließt Philippe Waechter seine Ausführungen ab.

Möglichkeit volatiler europäischer Aktienmärkte

Die europäischen Aktienmärkte scheinen von der Gefahr eines Brexits bisher eher unbeeindruckt zu sein. „Die Aktienmärkte scheinen zurzeit recht gleichgültig zu sein, und es gibt momentan auch keine Hinweise auf eine insgesamt unterdurchschnittliche Tendenz der Londoner Finanzmärkte“, erklärt Yves Maillot, Director of European Equities Investment. „Nichtsdestotrotz war in den letzten Wochen eine eindeutige Outperformance von auf den Binnenmarkt ausgerichteten britischen Unternehmen im Vergleich zu ihren international agierenden, exportorientierten Mitbewerbern zu beobachten. Der Auslöser dafür war der Rückgang des britischen Pfund, das in den vergangenen sechs Monaten gegenüber dem Euro rund 12% an Wert verloren hat.“

Laut Maillot würde ein Brexit vor allem britische Banken, die in hohem Maße auf ihren Binnenmarkt fokussiert sind, sowie die Finanzmärkte und die Finanzbranche insgesamt in eine schwierige Situation bringen. „Der Finanzsektor würde nicht mehr von den sogenannten ‚europäischen Pässen‘ profitieren, mit denen innerhalb der Union uneingeschränkt Finanzdienstleistungen angeboten werden können. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass 75% der europäischen Investment Banking- und Finanzunternehmen in London ihren Sitz haben.“ „In diesem Fall dürfte es zu einer Verschiebung der Strukturen kommen. Gleichzeitig würden auch einige ausländische Banken, deren Aktivitäten (BIP, Kreditvolumina) in hohem Maße durch die Entwicklungen in Großbritannien bestimmt werden, geschwächt“, ergänzt Yves Maillot. Falls es tatsächlich zu einem EU-Austritt Großbritanniens kommen sollte, dürften die europäischen Aktienmärkte angesichts der zu erwartenden Auswirkungen auf die Konjunktur sowie die Handelsbeziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich einen Schock erleiden, dessen Ausmaß aber nach wie vor schwer abzuschätzen ist, zwischen 5% und 10% oder sogar noch heftiger. Dieses Risiko zeigt sich bereits in dem wesentlich zurückhaltenderen Ansatz internationaler Investoren gegenüber Europa. Europäische Aktienfonds verzeichneten im Februar Mittelabflüsse. „Wenn Großbritannien in der EU bleiben würde, so würde dies die Märkte sehr beruhigen“, führt Yves Maillot aus.

Heftige Reaktionen unterschiedlicher Art am Anleihenmarkt

An den Anleihenmärkten wird ein Brexit als größte Gefahr seit der Staatsschuldenkrise in der Eurozone eingestuft. „Bisher haben die Anleihenmärkte ganz unterschiedlich reagiert: Entweder wurde das Risiko eines EU-Austritts konsequent ignoriert – wie an den Märkten für Unternehmensanleihen – oder man hat ihm in erheblichem Maße vorweggegriffen. Dafür spricht beispielsweise die deutliche Ausweitung der Zinsdifferenzen britischer Banken und Staatsanleihen-CDS sowie die Abwertung des britischen Pfund“, erläutert Philippe Berthelot, Director of Credit Management. Allerdings würde ein Brexit die Unsicherheit dramatisch erhöhen, was dann wohl auch einen Anstieg der Volatilität sowie eine beträchtliche Risikoscheu auslösen würde. Dadurch aber würden in der Folge die Risikoaufgelder aller Anlageklassen beeinflusst werden. „Für Großbritannien, dessen Kennzahlen teilweise schlechter sind als die Griechenlands (etwa das Zahlungsbilanz- und das Haushaltsdefizit), ist dies ein entscheidender Moment, der aber auch seine europäischen Nachbarn nicht unberührt lassen wird“, fügt Philippe Berthelot hinzu. Neben dem Wertverfall der Währung (GBP) hätte dies ebenfalls Folgen für die Zinsen sowohl kurz- als auch langfristig und damit auch für alle Kreditverbindlichkeiten Großbritanniens. „Falls sich die Briten jedoch für einen Verbleib in der EU aussprechen sollten, würde die britische Währung die Verluste, die sie in den letzten sechs Monaten erlitten hat, wieder wettmachen. Dann würden Anleihen britischer Banken auch wieder hervorragende Anlagechancen bieten“, so der Experte.

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