Ein Rückgang der langfristigen Zinssätze sowie auch das Abflachen der Zinskurve sind in der Regel Anzeichen für ein nachlassendes Wachstum. Die jüngste Entwicklung lässt sich allerdings nicht allein mit dem Verweis auf die Konjunktur begründen. Zwar haben Bedenken über die Robustheit des Wirtschaftswachstums zweifellos eine Rolle gespielt. Den starken Rückgang von über 50 Basispunkten seit April können sie jedoch nicht wirklich erklären. Zwar verlangsamt sich das US-Wachstum tatsächlich. Nach dem gigantischen Sprung von 33,4 Prozent im dritten Quartal letzten Jahres ist ein gewisser Temporückgang allerdings ebenso unvermeidlich wie zu erwarten.
Aus unserer Sicht sind die Gründe vielmehr technischer Art und auf ein temporäres Ungleichgewicht am Markt für US-Staatsanleihen zurückzuführen. Auf der einen Seite steht das US-Finanzministerium als Emittent von Staatsanleihen. Paradoxerweise hat dieses trotz eines nie dagewesenen Staatsdefizit in den letzten Monaten weniger neue Schuldpapiere begeben als sonst. Zur Verringerung des Defizits wurde stattdessen auf das Einlagenkonto bei der Fed zurückgegriffen. Die dort geparkte Liquidität belief sich zu Beginn des Jahres auf mehr als 1.6 Billionen US-Dollar, von denen die Finanzministerin, Jannet Yellen, eine Billion zum Finanzierung der Staatsausgaben nutzte. Parallel dazu, ging die Ausgabe neuer US-Staatsanleihen zurück. Konkret: während sich die USA im ersten Halbjahr 2020 netto um 3 Billionen US-Dollar verschuldete, waren es im ersten Halbjahr 2021 nur noch 780 Milliarden US-Dollar.
Eine Folge der Verwendung der bei der Fed geparkten Gelder ist die Bereitstellung von Liquidität für die Wirtschaft im Allgemeinen und das Finanzsystem im Besonderen. Wenn das US-Finanzministerium das bei der Fed hinterlegte Geld zur Finanzierung seiner Ausgaben verwendet, überträgt es seine Liquidität de facto auf das Bankensystem. Folgendes Beispiel macht das deutlich. Ein amerikanischer Bürger erhält einen Scheck von der Regierung, der vom Konto des Schatzamtes bei der Fed abgebucht wird. Dieser Scheck wird bei einer amerikanischen Bank eingezahlt, die dadurch einen Liquiditätszuwachs erhält. Die Überschussliquidität im Bankensystem ist im vergangenen Jahr um mehr als 2 Billionen und seit Jahresbeginn um mehr als 1,7 Billionen gestiegen. Dies ist eine enorme Summe und fördert die Nachfrage nach Vermögenswerten, insbesondere nach Staatsanleihen.
Im Ergebnis hat die Politik des US-Schatzamtes zusammen mit dem QE der Fed ein extrem ausgeprägtes Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage geschaffen. Unseres Erachtens erklärt dies einen großen Teil des Rückgangs der US-Zinsen. Diese Situation ist jedoch nur vorübergehend. Wenn unsere Diagnose richtig ist, dürfte das Ungleichgewicht am Markt schon bald nachlassen, so dass die Zinssätze dann wieder steigen würden.“
Stéphane Déo, Head of Markets Strategy, Ostrum AM
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