Was ist eigentlich diese vielbeschworene „sanfte Landung“, die synonym für Desinflation, eine widerstandsfähige Wirtschaft, sinkende Zinssätze und gelockerte Bewertungsmultiplikatoren steht? Alan Blinder, Vizepräsident der FED in den 1990er Jahren, beschreibt es als nichts Geringeres als den Heiligen Gral der Zentralbanken, „das heilige Feuer aller Geldpolitik“, wie er in seinem neuesten Beitrag im Journal of Economic Perspectives zugibt. Er bezieht sich auf die seltenen Momente in der Geldgeschichte, in denen es der Fed gelang, ihre Leitzinsen zu erhöhen, ohne dass das BIP ein Jahr später um mehr als 1% fiel.
Seit 1965 gab es in den Vereinigten Staaten elf aufeinanderfolgende Programme zur geldpolitischen Straffung. Die schlechte Nachricht für Investoren: In 70% dieser Fälle gerieten die Wirtschaft und die Aktienmärkte aus dem Ruder –mit einem maximalen Kursrückgang von im Schnitt 30%! Nur in drei Fällen gelang der US-Wirtschaft eine sanfte Landung: „Um einen sanften Landeanflug zu erreichen, muss eine Zentralbank sowohl Glück als auch Geschick haben“, räumt Blinder ein. Der „Fallschirm“ der US-Präsidentschaftswahlen, die oft mit der Hoffnung auf fiskalische Anreize in Verbindung gebracht wird, dürfte den Märkten also sehr helfen.
Im Cockpit behalten wir Analysten indes die Warnsignale im Auge, während wir uns der Landebahn nähern. Vergangene Woche sendeten uns die Einkaufsmanagerindizes für die chinesische Industrie gemischte Signale über den Zustand der inländischen Nachfrage und der Exportmöglichkeiten. Europa ist, mehr als die Vereinigten Staaten, anfällig für die wirtschaftliche Abschwächung seines Hauptgeschäftspartners. Es steht auch an vorderster Linie der Betroffenen, wenn die Volatilität der Energiepreise wieder auflebt. Die Spannungen im Energiemarkt bleiben nicht zuletzt angesichts des Risikos neuer Ölquoten in Saudi-Arabien aktuell.
Trotz eines Anstiegs um mehr als 8% seit Ende Oktober, getrieben durch eine größere Wahrscheinlichkeit, dass die EZB im nächsten Jahr (vielleicht schon in der ersten Jahreshälfte) die Zinsen senkt, werden europäische (und Schwellenländer-) Aktien mit einem nahezu rekordverdächtigen Abschlag gegenüber US-Aktien gehandelt. Das ist ein zugleich ein doppelter Schlag: Der Rückgang der Nominalzinssätze (vor dem Hintergrund der Desinflation) hat die Expansion der Multiples in unseren stürmischen Breiten weniger begünstigt, während die Aussichten auf nominales Wachstum, das noch nicht materialisiert ist, deutlich in die Margen- und Gewinnerwartungen einschneiden.
Die Unternehmensgewinne sollen in Europa laut Prognosen immer noch um 7% steigen (verglichen mit 11% in den Vereinigten Staaten!), aber die Gewinnprognosen für 2024 (ohne Banken und Finanzdienstleistungen, die seit August 2022 die besten Zuflüsse verzeichneten!) werden weiter nach unten korrigiert werden. Die vorsichtigsten Strategen erwarten gar ein böses Erwachen am Tag nach Neujahr. Sie rechnen damit, dass die Gewinne in der ersten Hälfte des nächsten Jahres um bis zu 15% fallen könnten.
Nachdem die EZB die Zinssätze um 4,5% erhöht hat, müssen die Volkswirtschaften der Eurozone den Anstieg der Finanzierungsbedingungen verdauen. Mit einem schwer abschätzbaren Verzögerungseffekt und signifikanten Unterschieden zwischen den europäischen Volkswirtschaften. Man schuldet seinem Gläubiger nicht dasselbe, je nachdem, ob man nördlich oder südlich der Alpen leiht. Der durchschnittliche Zinssatz, den Unternehmen (ex Finanzdienstleister) zahlen, liegt in Italien über 5% und in Spanien über 4%. Das sind zwei Punkte mehr als in Deutschland und Frankreich. Die Bedingungen für eine Neubewertung und die durchschnittliche Laufzeit von Anleiheemissionen sind auch in den südlichen Ländern weniger günstig.
Als Ergebnis könnten sich Investoren erneut gezwungen sehen, hart durchzugreifen, um sich gegen das Kreditrisiko zu schützen, das im nächsten Jahr wahrscheinlich zunehmen wird. Wird Frankreich weiterhin in ihrem Fokus bleiben, wenn S&P zum ersten Mal unter der Präsidentschaft Macrons droht, das Kreditrating des Landes herabzustufen?
Von Thomas Planell, Portfoliomanager bei DNCA, einer Tochtergesellschaft von Natixis IM