Historisch gesehen muss eine „Cohabitation“, also das Auseinanderfallen von Regierung und Präsidentschaft in Frankreich, nicht zwingend zu einer Ausweitung des öffentlichen Defizits führen. So verbesserte sich zwischen 1986 und 1988 der Haushalt von -3,2% auf -1,8% des BIP. Dies gilt auch für den Zeitraum 1993-1995, als das öffentliche Defizit von erschreckenden 6,4% auf 5,1% sank. Unter Ministerpräsident Lionel Jospin schließlich, im Jahr 1997, wurde sogar ein Rückgang der Staatsverschuldung verzeichnet.
So ist man versucht zu sagen, dass sich die finanzielle Lage Frankreichs umso mehr verbessert, je weniger die Politik in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen. Aber die Ministerpräsidenten vergangener Kohabitationen haben, im Gegenteil, ihre jeweiligen Amtszeiten stark geprägt: Jacques Chirac, Edouard Balladur und Lionel Jospin drückten ihren Stempel auf, indem sie in den ersten zwölf Monaten dieser zweideutigen politischen Episoden markante Reformen in rasantem Tempo mittels Verordnungen umsetzten. Alle drei Kohabitationen waren mit einer Verschlechterung des Arbeitsmarktes konfrontiert.
Heute ist zwar die Beschäftigung stark. Aber die Verschuldung Frankreichs ist doppelt so hoch wie während der letzten Kohabitation. Laut der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich beläuft sich die Gesamtverschuldung Frankreichs (Staat, Haushalte, nichtfinanzielle Unternehmen) Ende 2023 auf über 300% des BIP. Im Gegensatz zu 250% in den USA. Beide Länder haben mehr oder weniger das gleiche Niveau der öffentlichen Verschuldung (um 110%), die französischen Haushalte sind 10% weniger verschuldet als die amerikanischen Haushalte, im Verhältnis zum Volksvermögen beträgt die Verschuldung der französischen Unternehmen jedoch 150% des BIP. Dies ist nicht unbedingt ein Zeichen von Bilanzschwäche, sondern spiegelt vielleicht eher das massive Gewicht unserer Großunternehmen im Verhältnis zur heimischen Wirtschaft wider. Ihre "Superprofite" oder ihre Steueroptimierung werden von den Rechten ebenso wie von den Linken beklagt.
Die von der neuen Koalition der Linken vorgeschlagenen Maßnahmen sind noch schwer zu quantifizieren. Da sie sich auf die Erhöhung der Löhne konzentrieren, werden sie wahrscheinlich die Ausgaben erhöhen. Die Vorschläge des Rassemblement National (110 Milliarden schrittweise Mehrausgaben, die sich zu 25% selbst finanzieren) würden, wenn sie umgesetzt würden, das derzeitige Defizit erhöhen, das mit 5,4% bis Ende 2023 dem der Balladur-Ära entspricht. Das Programm des RN könnte einen Nettoanstieg des Defizits um mehr als 80 Mrd. EUR pro Jahr bzw. 3,3% des BIP bewirken. Auf diesem Niveau hätte Frankreich vor zehn Jahren die Eintrittskarte in den Club der PIGS (Portugal, Italien, Griechenland, Spanien) gelöst, der unglücklichen Sündenböcke der Eurokrise.
Dies geht so weit, dass im Zuge des Auf und Abs des OAT-Bund-Spreads das Gespenst einer neuen Eurokrise zurückkehrt. Der Risikoaufschlag französischer Staatsanleihen nähert sich seiner schlimmsten Abweichung gegenüber der deutschen Benchmark seit 2011 und zaubert den ewigen Kritikern der Einheitswährung wieder ein Lächeln ins Gesicht.
Für die Anleger stellt sich nun die Frage, ob die politische Risikoprämie (auf Staatsanleihen und den CAC40, der seit Montag, dem 10. Juni, um fast 5% gefallen ist) über das Ergebnis der Parlamentswahlen hinaus bestehen bleiben wird. 1981 gaben die französischen Aktien zwischen der Ankündigung der Auflösung und dem Ende der Parlamentswahlen zur Neubildung der Kammer um bis zu 11% nach, bevor sie sich im Monat nach der Wahl um 7,6% erholten. Aber 1988 und 1997 hatten sich die Aktienmärkte recht gut mit dem politischen Wechsel arrangiert: bis zu +16% zwischen der Ankündigung der Präsidentschaftswahl und der Auszählung der Stimmen zwischen dem 14. Mai und dem 12. Juni 1988.
Als Träger einer "erstaunlichen Geschmeidigkeit", um es mit den Worten eines der bekanntesten französischen Verfassungsrechtler, Guy Carcassonne, zu sagen, schildert unsere Verfassung die Umrisse der Kohabitation wie ein Aquarell. Schließlich ist, wie der legendäre Jurist Carbonnier sagt, "das Recht zu menschlich, um den Absolutheitsanspruch der geraden Linie zu erheben".
Von Thomas Planell, Portfoliomanager bei DNCA