Das Jahr 2024 neigt sich dem Ende zu und tritt in sein letztes Quartal ein, doch wir wissen noch immer nicht, durch welche Tür es in die Geschichte eingehen wird.
Wird es die Wahl der ersten Frau zur Präsidentin der Vereinigten Staaten sein? Oder Trumps zweite Amtszeit und ein weiterer Schub von Protektionismus?
Vielleicht das größte geld- und fiskalpolitische Stimulusprogramm in der chinesischen Geschichte? Oder gar eine Eskalation im Nahen Osten, die den Ölpreis auf 150 Dollar pro Barrel treibt und mehrere Wirtschaftszentren in die Rezession stürzt?
Somit agieren Investoren im letzten Quartal des Jahres in einem breiten Spektrum von Szenarien – viele davon widersprüchlich. Nicht alle dieser Szenarien können gleichzeitig eintreten. Einige werden revidiert werden müssen, wahrscheinlich zulasten von Kapitalverlusten.
Optimismus an den Aktienmärkten bleibt bestehen
An den Aktienmärkten herrscht weiterhin Optimismus. Zwar wurden die Gewinnerwartungen für das dritte Quartal leicht nach unten korrigiert (-4% für den S&P500, -3,7% für den Eurostoxx50 im Vergleich zu Schätzungen vom Sommerbeginn), doch insgesamt – mit Ausnahme bestimmter Sektoren wie der Automobilindustrie – setzen Käufer auf eine dynamische Gewinnsteigerung und darauf, dass die Margen auf hohem Niveau weiter wachsen können.
Inflationsprognosen und Zinserwartungen
Dieser Optimismus beruht auf einem Szenario wirtschaftlicher Widerstandskraft, das sich in den Inflationsprognosen widerspiegelt. Diese entfernen sich nur langsam von den Zielen der Zentralbanken (+20 Basispunkte für die 10-jährigen Anleihen seit ihrem Tief im September, abhängig davon, ob man Break-even-Raten oder Swaps betrachtet).
Revision der Rentenmärkte nach Arbeitsmarktdaten
Anders sieht es an den Rentenmärkten aus, die wohl zu aggressiv in ihren Erwartungen an geldpolitische Lockerungen waren. Dies musste nach den besser als erwarteten US-Arbeitsmarktdaten am Freitagnachmittag revidiert werden. Innerhalb einer Woche stieg die Endrate, die von den SOFR-Futures angezeigt wird, um 30 Basispunkte von 2,9% auf 3,2% und näherte sich damit den sieben restriktivsten Punkten der FOMC-Planung an. Allein am Freitag stiegen die Renditen für US-Anleihen an einigen Punkten der Kurve um fast 20 Basispunkte.
Ökonomisches Wachstum und Risiko-Rendite-Abwägung
Allmählich verschiebt sich das Wahrscheinlichkeitsgewicht zugunsten eines Szenarios mit robusterem Wirtschaftswachstum. Dies bedeutet nicht, dass Zweifel am Zinsverlauf bestehen, sondern eher an der Geschwindigkeit ihres Rückgangs. Fragen über die Notwendigkeit der Indexierung an Inflation und Wachstum (Aktien, Break-evens) sowie über die angemessene Rendite für das Zinsrisiko werden aufgeworfen.
Rohstoffmärkte: Hohe Erwartungen, politische Spannungen
An den Rohstoffmärkten nähern sich Industriemetalle ihren Jahreshöchstständen an, zunächst beflügelt von 26 weltweiten Zinssenkungen im September, dann durch die Hoffnung auf eine historische chinesische Erholung. Gold erreichte einen Höchststand, doch Öl wurde hin- und hergerissen: mal durch das erhöhte Angebot Saudi-Arabiens, mal durch die Verschärfung des Konflikts zwischen Israel, Iran und dessen störenden Akteuren.
Geopolitische Schocks und ihre Auswirkungen auf Zinsen
Geopolitische Schocks können auch langfristig reale Zinssätze beeinflussen. In einer faszinierenden Studie, die im Oktober 2022 vom US National Bureau of Economic Research veröffentlicht wurde, erzählen Kenneth S. Rogoff, Barbara Rossi und Paul Schmelzing die Geschichte der realen globalen Zinssätze von 1311 bis heute.
Sie fanden heraus, dass reale Langfristzinsen (kurzfristige Zinsen wurden ursprünglich zur Kriegsfinanzierung verwendet und tauchten erst spät auf) seit über 700 Jahren einem stationären Abwärtstrend folgen, insbesondere seit der Pest von 1349, die den Beginn eines Rückgangs der realen Kapitalkosten von 14% auf nahezu 0% am Vorabend des Ersten Weltkriegs markierte.
Im Gegensatz zur landläufigen Meinung sind demografische Faktoren oder das BIP-Wachstum laut dieser Studie keine langfristigen Bestimmungsgrößen für reale Zinsen. Im Gegenteil, es gab lange Perioden starken demografischen und wirtschaftlichen Wachstums, in denen die realen Zinssätze erheblich gesunken sind.
Kombination geopolitischer und wirtschaftlicher Schocks als Katalysator
Um die realen Zinssätze langfristig von ihrem Trend abweichen zu lassen, braucht es zwei Zutaten: die gleichzeitige Kombination zweier tiefgreifender Schocks – eines (geo)politischen und eines wirtschaftlich-finanziellen. Beispiele hierfür sind der dreifache Staatsbankrott von 1557, die Krise von 1694, die Napoleonischen Kriege, das vorübergehende Ende der Goldkonvertibilität und der Erste Weltkrieg, sowie das Ende von Bretton Woods, das mit dem Ölpreisschock von 1973 zusammenfiel.
Wenn wir also auf die Geschichte blicken, sollten wir nicht nur den Ausgang eines möglichen eskalierenden Konflikts im Nahen Osten vorausahnen, sondern uns auch daran erinnern, dass solche geopolitischen Schocks Wirtschaftszyklen zu Fall bringen können. Wenn sie von tiefgreifenden Veränderungen in politischen Doktrinen begleitet werden (wie die Rückkehr des totalen Krieges zwischen modernen Großmächten oder Protektionismus), können sie nicht nur das Leben von Millionen Menschen beeinflussen, sondern auch den realen Kapitalkostensatz und unsere Art, über dessen Allokation nachzudenken, über Jahrzehnte hinweg prägen.
Mit diesem Wissen aus der Vergangenheit sollten wir uns auf die Zukunft vorbereiten – in der Hoffnung, dass die Waffen im Nahen Osten verstummen.
Von Thomas Planell, Porftoliomanager bei DNCA Invest