Obwohl inzwischen die Hälfte der Investoren mit einem hard landing der Konjunktur rechnet*, erscheint die aktuelle Lage widersprüchlich. Denn eine Rückschau auf frühere Krisen – ob ausgelöst durch einen Ölpreisschock wie 1975 oder durch eine Kreditklemme wie 2008 – zeigt, dass Notenbanken und Regierungen in der Regel nach einem bekannten Muster reagieren. Doch der aktuelle Kontext, geprägt von den jüngsten Maßnahmen des US-Präsidenten, ist neuartig: ein wirtschaftlicher Unsicherheitsimpuls, der deutlich heftiger ausfällt als während seiner ersten Amtszeit. Einigkeit herrscht nur in einem Punkt: Die Risiken sind klar aufseiten eines makroökonomischen Abschwungs – und damit sinkender Gewinne je Aktie. Umso relevanter ist die Frage, wie stark die Gewinnschätzungen künftig nach unten korrigiert werden. Denn wie man weiß: Nicht der Fall ist entscheidend, sondern die Landung.
Ein oberflächlicher Blick auf die laufende Berichtssaison könnte suggerieren: business as usual. Bei 49% der europäischen Unternehmen, die bereits Zahlen vorgelegt haben, liegt der Anteil positiver Überraschungen im langjährigen Schnitt – etwa 55%. In den USA ist das Bild ähnlich (75%). Doch dabei wird leicht übersehen, dass die Analystenerwartungen im Vorfeld deutlich nach unten korrigiert wurden: Die Gewinnprognosen für das erste Quartal (gegenüber Q1 2024) sanken beim S&P 500 zwischen Ende Dezember und Mitte April von +11% auf +6%, in Europa sogar von +2% auf –5%.
Im Detail zeigt sich: Das tatsächliche Gewinnwachstum im ersten Quartal liegt in Europa bei –3%, belastet vor allem durch den Energie- und Rohstoffsektor. In den USA dagegen tragen wenige, vor allem aus dem Gesundheits- und Technologiesektor (+14%), die Gesamtentwicklung. Blickt man jedoch auf die Medianwerte, entsteht ein anderes Bild: In den USA sinkt das Gewinnwachstum veröffentlichter Unternehmen auf +6%, in Europa steigt es auf +5%.
Da die Q1-Ergebnisse naturgemäß noch die Zeit vor dem „Tag der Befreiung“ abbilden, richtete sich der Fokus der Investoren vor allem auf den Ausblick für den Rest des Jahres. Die Auswertung der Analystencalls zeigt ein klares Bild: 63% der Unternehmen äußern sich neutral zur gesamtwirtschaftlichen Lage – ein Spiegelbild der aktuellen Unsicherheit. Konkretere Faktoren wie Wechselkursentwicklungen und Lagerbestände werden dagegen zunehmend negativ bewertet. Einzig das Thema Künstliche Intelligenz sorgt weiterhin für positive Impulse – 78% der Unternehmen äußerten sich optimistisch.
Die zurückhaltenden Töne auf Unternehmensseite spiegeln sich auch in den revidierten Analystenschätzungen: Über das erste Quartal hinaus wurden die Gewinnprognosen für das Gesamtjahr nach unten angepasst – in Europa von +7% auf +4% seit Jahresbeginn, getrieben vor allem durch den Automobil- und Energiesektor. Konkret liegt das BPA-Breathing Ratio bei 25% – auf jede positive kommt vier negative Gewinnrevisionen.
Wie groß ist das weitere Abwärtspotenzial abseits eines echten Rezessionsszenarios?
Eine aktuelle Analyse von Goldman Sachs gibt einen Hinweis: Angesichts sinkender Ölpreise, eines starken Euro und eines globalen Abschwungs senkte die US-Bank ihre EPS-Erwartung für Europa von +2% auf –7%.
Auch wenn die Bandbreite der Analystenschätzungen derzeit ungewöhnlich hoch ist, spiegelt sie letztlich nur eine ebenso ungewöhnliche makroökonomische Gemengelage wider – mit einer auffälligen Diskrepanz zwischen schwachen soft data (z. B. Einkaufsmanagerindizes, Konsumentenvertrauen) und robusten hard data (Konsum, Produktion, Arbeitsmarkt). Eine mögliche Erklärung: wirtschaftliche Akteure könnten Maßnahmen bereits vorziehen – im Vorgriff auf die tatsächliche Einführung neuer Handelszölle.
Konvergenz der Einkaufsmanagerindizes
Neben dieser Lücke zwischen weichen und harten Daten fällt eine weitere Entwicklung auf: die zunehmende Annäherung der Einkaufsmanagerindizes (PMI) dies- und jenseits des Atlantiks. Diese Konvergenz – gepaart mit fiskalpolitischen Impulsen aus Europa – spricht für eine Verringerung des Wachstumsabstands zwischen den Regionen. Und damit auch für eine Reduktion der Bewertungsabschläge europäischer Aktien im Vergleich zu ihren US-Pendants (aktuell 20% auf sektorneutraler Basis vs. historisch 10%).
Unterm Strich spricht vieles für eine stärkere Gewichtung Europas in internationalen Portfolios. Und in diesem Zusammenhang sei daran erinnert: Die USA machen inzwischen 65% der globalen Aktienindizes aus – gegenüber 45% unmittelbar nach der Finanzkrise.
Von Pierre Pincemaille, Portfoliomanager, DNCA Invest
*Quelle: Aktuelle Umfrage der Bank of America