Sehr geehrte Damen und Herren,
nach zwei Jahren, die ganz im Zeichen des Coronavirus und seiner Varianten standen, haben wir mit Recht auf eine Entspannung in diesem Frühling gehofft. Doch weit gefehlt! Die barbarische Invasion in der Ukraine gefährdet die Rückkehr zu einer besseren politischen und wirtschaftlichen Situation. Bei näherer Betrachtung kündigt sich in diesen beiden Krisen allerdings eine neue Weltordnung an, die zu mehr Hoffnung Anlass geben könnte, als viele meinen.
Die großen Schwierigkeiten der russischen Armee in der Ukraine waren eine Überraschung. Sie veranschaulichen nach unserer Einschätzung die vielfach übersehene Tatsache, dass das heutige Russland – genau wie das Russische Reich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts – ein „Koloss auf tönernen Füßen“ ist. Vielfach lassen wir uns von Attrappen beeindrucken – ganz wie Katharina die Große, die einst auf Kulissen blickte, die der Minister Potemkin entlang der Eisenbahnstrecken errichten ließ, um die Armut mancher Dörfer vor der Zarin zu verbergen. Dabei sind die vernichtenden Zahlen der russischen Wirtschaft allgemein zugänglich. Das russische Bruttosozialprodukt ist kleiner als das von Italien. Wie plausibel erscheint es, dass Russland über eine moderne, mit den neuesten Technologien ausgestattete Armee verfügt, die ein Land zu verteidigen vermag, das sich über zwei Kontinente erstreckt? Die Militärausgaben verschlingen zwar fast 5% des Nationaleinkommens, betragen aber dennoch weniger als 10% des US-Militärhaushalts. Hinzu kommt noch die „Verteilung“ von fast 10% des nationalen Vermögens an die Oligarchen. Insgesamt sorgt diese Kostenbelastung dafür, dass die Wirtschaft bestenfalls auf der Stelle tritt. Schlimmer noch: Das Pro-Kopf-Einkommen ist in den letzten Jahren, also bereits vor dem Einmarsch in die Ukraine, um ein Viertel gesunken. Deshalb ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sich Putin auf einen langen Konflikt einlässt, sofern er nicht den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft und den Sturz seines Regimes riskieren will.
Auch das mangelhafte Krisenmanagement Chinas während der Pandemie hat viele überrascht. Die chinesische Bevölkerung besitzt keinen wirksamen Impfschutz, die Krankenhausinfrastruktur ist unzureichend und die Omikron-Variante offensichtlich hochansteckend. Wie konnte die Regierung vor diesem Hintergrund die Zulassung ausländischer Impfstoffe verweigern? Durch eine solche Politik wurden strikte Eindämmungsmaßnahmen alternativlos. Gesundheitsnationalismus ist keine überzeugende Strategie. Der unübersehbare Vorteil, den die chinesischen Behörden aus der systematischen Rückverfolgung von Infektionsketten mittels QR-Codes ziehen, liegt in der Überwachung von Personenbewegungen. Wie hoch der Preis der rigiden Eindämmungsmaßnahmen letztendlich sein wird, lässt sich noch nicht abschätzen. Zwar gab es laut den offiziellen Statistiken bisher nur wenige Tote, doch der ökonomische Preis ist bereits beträchtlich, da Wirtschaft und öffentliches Leben in vielen Städten praktisch zum Stillstand gekommen sind. Welche politischen Auswirkungen hätte es, wenn nach Shanghai auch Peking in einen strengen Lockdown gehen müsste?
Im Übrigen sind wir – wie Marc Lambron es formulierte – eher bereit, der sich abzeichnenden Dämmerung die Morgenröte der Hoffnung entgegenzustellen. Diese Aussichten auf eine Weltordnung, die libertären Bestrebungen mehr Raum gibt, sind durchaus ermutigend. Doch welche Folgen ergeben sich für die Märkte? Die Invasion in der Ukraine und die epidemische Lage in China sind kurzfristig eindeutig schlechte Nachrichten, da sie den Inflationsdruck weiter erhöhen und gleichzeitig eine Verlangsamung der Weltwirtschaft bewirken. Die Ukraine-Krise erhöht nicht nur die geopolitische Unsicherheit, sondern sorgt auch für einen Anstieg der Energie- und Nahrungsmittelpreise. Durch die Produktionsstopps in China verringert sich die Wirtschaftsaktivität in dem Land mit der größten verarbeitenden Industrie der Welt. Darüber hinaus kommt es zu neuen Engpässen in den Lieferketten, die viele Bereiche unserer Wirtschaft betreffen werden. Unter diesen Bedingungen werden wir bei der Steuerung der Risiken in unseren Portfolios besonders sorgfältig vorgehen, zumal viele Zentralbanken dem Risiko einer unkontrollierten Inflation mit einer restriktiveren Geldpolitik begegnen werden.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie in dieser angstbesetzten Zeit gelassen bleiben.
Mit freundlichen Grüßen
Edouard Carmignac