Die Corona-Krise stellt die Unternehmen vor eine Vielzahl von Herausforderungen. Anleger, die Umwelt-, Sozial- und Unternehmensführungsaspekte (ESG-Faktoren) in ihr Research einbinden, können dadurch wichtige Einblicke in die Art und Weise gewinnen, wie die Unternehmen sich an die Situation anpassen – und wie sich dies auf das künftige Renditepotenzial auswirken könnte.
Durch die COVID-19-Krise hat die Durchführung einer ESG-Analyse für Anleger verstärkt an Bedeutung gewonnen. Im Zuge des gigantischen Ausmasses der humanitären und wirtschaftlichen Krise ist der Schutz der öffentlichen Gesundheit nun ein wesentlicher Faktor für die Unternehmenspolitik geworden. Die Entscheidungen der Geschäftsführungen in Bezug auf zahlreiche ESG-Faktoren werden sich bei vielen Firmen auf die Gewinne auswirken. Wir sind der Ansicht, dass die Einbindung einer ESG-Analyse in die Researchprozesse für Wertpapiere den Anlegern einen besseren Eindruck darüber vermittelt, wie das Verhalten eines Unternehmens während der Pandemie sich auf die künftigen Erträge auswirkt.
Wer verantwortungsbewusst investieren möchte, der sollte sich aus zwei Gründen auf die Reaktionen der Firmen auf die Corona-Krise konzentrieren: Erstens ist es wichtig sicherzustellen, dass sich die Unternehmen als verantwortungsvolle Corporate Citizens erweisen. Zweitens müssen Anleger ein besseres Verständnis der Chancen und Gefahren gewinnen, die sich aus der Pandemie für das Geschäftsmodell ergeben.
Das Coronavirus stellt das ESG-Engagement auf den Prüfstand
Welche Arten von ESG-Problemen haben sich für die Unternehmen durch das Coronavirus ergeben? Viele mussten in Bezug auf die Frage, wie man die Arbeitnehmer am besten schützt und gleichzeitig den Geschäftsbetrieb aufrecht erhält, harte Entscheidungen fällen. Die Maßnahmen reichten von einer Beurlaubung der Mitarbeiter bis hin zur Zahlung von Abfindungen und Entschädigungen oder der Bereitstellung anderer Arten von Unterstützung. Unternehmen, die ihr Personal ins Home-Office schickten, sahen sich mit der Entwicklung einer angemessenen Lösung zur Gewährleistung des Datenschutzes und der Sicherheitsstandards konfrontiert.
Ein weiteres Thema war das Verhalten und die Vergütung der leitenden Angestellten. Zeigten sich die Unternehmensleitungen gewillt, in einer Zeit, in der die Gewinne durch den Nachfrageschock erheblich unter Druck gerieten, eine entsprechende Kürzung ihrer Vergütung zu akzeptieren? Wie sah es bei den Dividenden und der Rückkaufpolitik aus, insbesondere bei Firmen, die staatliche Unterstützung erhielten? Und werden die Firmen auch nach der Überwindung der aktuellen Schwierigkeiten bereit sein, während einer Rezession oder einer Phase erhöhter Unsicherheit im Hinblick auf das Geschäftsumfeld in Projekte zur Reduzierung der Emissionen oder zur Minderung der Auswirkungen des Klimawandels zu investieren?
Fallbeispiele: ESG-Bewusstsein gerade in Pandemiezeiten von Bedeutung
Oft haben Unternehmen, die bereits starke ESG-Praktiken verinnerlicht haben, die Krise gut gemeistert. Vielleicht weil das ESG-Bewusstsein oft ein Zeichen dafür ist, dass ein Unternehmen vorausschauend agiert und sich strategisch bereits damit auseinandergesetzt hat, wie der Geschäftsbetrieb unter verschiedenen Szenarien weitergeführt werden könnte. Dies kann von Vorteil sein, wenn es darum geht, Technik und Betriebstätigkeit kurzfristig den Anforderungen der Fernarbeit anzupassen und gleichzeitig den Mitarbeitern und der Gemeinschaft die benötigte Unterstützung zu bieten sowie den Kunden weiterhin Produkte und Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen.
Ein Beispiel ist Williams-Sonoma, ein US-amerikanischer Hersteller von Küchenartikeln und Haushaltswaren. Auch nach der Schliessung seiner Einzelhandelsfilialen zahlte das Unternehmen seinen Angestellten weiterhin Gehälter und Zusatzleistungen und setzte sogar einen Teil der Filialmitarbeiter bei der virtuellen Kundenberatung ein. Die Geschäftsleitung zeigte sich auch dem Personal in den Vertriebszentren gegenüber verantwortungsvoll, indem es zusätzliche Massnahmen zum Gesundheitsschutz einführte und Lohnzulagen zahlte. So ist es Williams-Sonoma gelungen, der steigenden Nachfrage aus dem Online-Handel nachzukommen, seine Mitarbeiter weiterhin zu beschäftigen und treue Kunden im Zuge der Lockerungen zurück in die Geschäfte zu locken.
Im Bereich der Versorgungsunternehmen war der italienische Energiekonzern Enel äusserst aktiv bei der Planung des Übergangs zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft. Das Unternehmen hat in erneuerbare Energie investiert und gleichzeitig seine Infrastruktur, Werkzeuge und Prozesse einer Welt im Wandel angepasst.
Wie hat Enel davon während der COVID-19-Krise profitiert? Enel hat ausgeklügelte Netzmanagement- und IT-Systeme aufgebaut, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die künftige Energieerzeugung durch Solar- und Windenergie an kleinen und weit auseinanderliegenden Standorten erfolgt. Da die Energie aus erneuerbaren Ressourcen nicht unterbrochen gewonnen werden kann, hat das Unternehmen eine Infrastruktur entwickelt, die eine Messung und Verwaltung der Nachfrage in Echtzeit ermöglicht. Heute kann Enel daher einen Großteil seiner Übertragungs- und Verteilungsaktivitäten remote steuern, ohne Tausende von „systemrelevanten“ Arbeitnehmern durch den manuellen Betrieb des Netzes, das Ablesen von Zählern vor Ort oder direkten Kundenkontakt einem Gesundheitsrisiko aussetzen zu müssen. Zudem ist Enel dank seiner Kundenmonitoringsysteme in der Lage, Kunden zu identifizieren, die Probleme bei der Zahlung ihrer Rechnungen haben, und proaktiv auf diese Kunden zuzugehen, um ihnen Unterstützung anzubieten.
Das integrierte ESG-Research-Modell
Diese Art von Unternehmensverhalten wirkt sich oft direkt auf den Gewinn aus – und unserer Meinung nach auch auf die Wertentwicklung der Aktie. Vielleicht ist das auch der Grund, warum während des durch die COVID-19-Pandemie bedingten Abschwungs im ersten Quartal 2020 Titel mit starken ESG-Bewertungen eine überdurchschnittliche Wertentwicklung verzeichnen konnten.
Allerdings ist es nicht leicht, solche ESG-Leader ausfindig zu machen. Ratings von Drittanbietern beruhen auf der Vergangenheit und berücksichtigen meist nicht die zukunftsorientierten Änderungen im Verhalten eines Unternehmens, die auf eine künftige Verbesserung der ESG-Politik hindeuten könnten. Anleger profitieren bei der Analyse dieser Punkte am meisten von einem integrierten Research-Modell. Analysten, die ein Unternehmen betreuen und über spezielle Branchenfachkenntnisse verfügen, sind am besten geeignet, um die Pandemie-Reaktion eines Unternehmens zu beurteilen und zu analysieren, wie sich diese Reaktion auf Cashflows, die Bilanz und die Gewinne auswirkt. Diese Art der ESG-Einbindung in das fundamentale Research ist unserer Ansicht nach die beste Methode, verantwortungsbewusstes Investieren in Anlageportfolios umzusetzen.
Hierbei müssen jedoch verschiedene Punkte berücksichtigt werden. Erstens eine langfristige Betrachtung der Geschäftsstrategie und des Branchenumfelds, insbesondere wenn der kurzfristige Ausblick mit so hoher Unsicherheit behaftet ist. Zweitens ein globaler Ansatz – unverzichtbar in einer Welt, in der die Pandemie die weltweiten Handels- und Lieferketten auf den Kopf gestellt hat. Drittens muss ein Austausch mit der Geschäftsleitung stattfinden, damit ein wirkliches Verständnis davon gewonnen werden kann, wie die schwierigen strategischen Entscheidungen gefällt werden, um sowohl den Bedürfnissen der Interessengruppen als auch jenen der Mitarbeiter und der Kunden gerecht zu werden.
Vorteile durch Big Data
Auch neue Ansätze in Bezug auf Daten können Einblicke in die Erholungspfade von Unternehmen bieten. So lassen sich im heutigen Umfeld beispielsweise komplexe Lieferketten von Unternehmen, ja sogar die Lieferketten der Zulieferer, mithilfe von Big-Data-Verfahren analysieren, was Anlegern ermöglicht zu erkennen, wie ein Unternehmen mit staatlich verhängten Lockdown-Maßnahmen zurechtkommt.
Beurteilungen und Stimmung der Mitarbeiter im Internet lassen Schlüsse darauf zu, wie gut das Personal und die Geschäftsleitung mit der Heimarbeit zurechtkommen. Anhand der Auswertung von Kennzahlen zu persönlicher Mobilität, Kreditkartenkäufen, Restaurantbuchungen sowie zur Umweltverschmutzung durch Fabriken kann entsprechendes Research einen besseren Einblick in die Wertentwicklung von Unternehmen aus verschiedenen Branchen in Krisenzeiten vermitteln.
COVID-19 hat Unternehmen und Anleger vor neue ESG-Herausforderungen gestellt. Wir sind der Ansicht, dass Unternehmen, die auch während der Krise ESG-Faktoren verantwortungsvoll berücksichtigen, eine bessere Chance auf eine erfolgreiche Erholung haben. Gleiches gilt für Anleger: Wer die ESG-Analyse als zentralen Bestandteil in sein Wertpapierresearch einbindet, ist gut positioniert, um Aktien und Anleihen von Unternehmen zu finden, die sowohl ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden, als auch langfristiges Ertragspotenzial bieten.
Michelle Dunstan ist Global Head – Responsible Investing und Portfolio Manager – Global ESG Improvers Strategy, AllianceBernstein
In diesem Dokument zum Ausdruck gebrachte Meinungen stellen keine Analysen, Anlageberatungen oder Handelsempfehlungen dar, spiegeln nicht unbedingt die Ansichten aller Portfoliomanagementteams bei AB wider und können von Zeit zu Zeit überarbeitet werden.