Obwohl die Staatsschuldenkrise von 2008 offenbar längst überwunden ist, fürchten die Anleger eine Wiederholung und betrachten die hohe Verschuldung mit Sorge.
Aufgrund der rückläufigen Wirtschaftsleistung und der stärker von staatlichen Eingriffen geprägten Fiskalpolitik erhöhten sich während der Pandemie in ganz Europa die Staatsschuldenquoten und die Peripherieländer der Eurozone wurden anfälliger für Wirtschaftsschocks. Inzwischen haben sich die Schuldenquoten zwar stabilisiert; sie werden aber laut Prognosen der Europäischen Kommission in den nächsten zwei Jahren nicht nennenswert zurückgehen und daher größtenteils deutlich über dem im Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) der Europäischen Union festgelegten Grenzwert liegen. Das klingt beängstigend, aber bei diesem Szenario sind auch noch andere Aspekte zu berücksichtigen.
Die Volkswirtschaften erholen sich von der Pandemie
Insgesamt haben die EU-Peripheriestaaten – Griechenland, Irland, Italien, Portugal und Spanien – ihre Staatsschuldenquoten seit der Pandemie bereits deutlich reduziert und machen weiterhin Fortschritte (Abbildung). Italien stellt eine Ausnahme dar: Seine Staatsschuldenquote wird Prognosen zufolge bis mindestens 2025 hoch bleiben (140%), und es hat die schlechtesten Wachstumsaussichten unter den Peripheriestaaten.
Trotz der hohen Schuldenquoten sehen die Wachstumstrends für die europäischen Peripheriestaaten recht günstig aus. In letzter Zeit haben diese Länder besser als ihre Nachbarn in Nordeuropa (wie Deutschland und die Niederlande) abgeschnitten, denn ihre Volkswirtschaften sind stärker auf Dienstleistungen ausgerichtet und weniger auf Energie und den Welthandel angewiesen.
Die vorteilhaftere Entwicklung wird mit einer Hochstufung der Ratings gewürdigt (Abbildung). Portugal ist auf dem besten Weg, ein A-Rating zu erhalten, und auch Griechenland wird von führenden Ratingagenturen seit Kurzem wieder als „Investment Grade“ eingestuft. Irland nähert sich dem Status „AA“, während sich Spanien weiterhin auf einem soliden A-Niveau befindet. Italien hat mit einem Rating von BBB in der Zeit nach der Pandemie bisher keine Fortschritte bei der Bewertung gemacht.
Neue Strukturen wirken systemischen Risiken entgegen
Seit der Krise von 2008 haben europäische und internationale Institutionen eine Reihe von Strukturen zur besseren Steuerung von systemischen Risiken geschaffen und optimiert. In der Eurozone leisteten Programme zum Ankauf von Staatsanleihen – wie das Programm zum Ankauf von Vermögenswerten (Asset Purchase Programme oder APP, 2014) und das Pandemie-Notfallankaufprogramm (Pandemic Emergency Purchase Programme oder PEPP, 2020) der Europäischen Zentralbank (EZB) – einen Beitrag dazu, in Phasen einer verstärkten Anlegerbeunruhigung die Spreads von Staatsanleihen zu verringern. Anschließend milderte die Einführung des Transmissionsschutz-Instruments (Transmission Protection Instrument oder TPI, 2022) Verwerfungen am Markt und sorgte für niedrigere Spreads. Nach seiner Aktivierung versetzt das TPI die EZB in die Lage, die Anleihen einzelner Mitgliedstaaten mit gezielten Ankäufen zu stützen.
Als Reaktion auf die pandemiebedingte Notlage erhielt die Europäische Kommission die Befugnis, bestimmten Ländern der Eurozone über die Aufbau- und Resilienzfazilität (2021) sowohl Kredite als auch Finanzhilfen zu gewähren. Das war der erste Schritt zum Aufbau einer Struktur für die gemeinsame Schuldenaufnahme in der EU, um den Bedürfnissen einzelner Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen und ihre Finanzierungskosten zu senken.
Gegenwärtig überarbeitet die Europäische Kommission ihren Ansatz zur Steuerung der Staatsverschuldung. Während die ursprünglichen SWP-Regelungen eine feste Obergrenze für Defizite und Schuldenquoten vorsehen (die 3% bzw. 60% des jeweiligen BIP nicht übersteigen durften), ermöglichen die vor Kurzem vereinbarten Änderungen des SWP einen flexiblen länderspezifischen Ansatz zur Verringerung der Verschuldung. Unseres Erachtens wird dieser neuer Ansatz sowohl die Haushaltsdisziplin stärken als auch zur Eindämmung von Marktverwerfungen beitragen, falls ein Land seine Ziele in einem bestimmten Jahr nicht erreicht – und zwar ohne das Wirtschaftswachstum dieses Landes gravierend zu beeinträchtigen.
Stärkere Banken mindern Turbulenzen
Ein solideres Bankensystem leistete ebenfalls einen Beitrag zur Erhöhung der Finanzstabilität. Die US-Regionalbankenkrise und der Zusammenbruch der Credit Suisse im letzten Jahr erinnerten uns zwar an die im Bankensektor stets vorhandenen Risiken, aber die Bilanzen der Banken sind wesentlich robuster als vor der globalen Finanzkrise. Höhere Liquiditätsquoten und ein stärkerer allgemeiner Regelungsrahmen haben dazu beigetragen, eine Ausweitung regionaler Krisen auf globaler Ebene zu verhindern.
In Europa trugen die 2014 eingeleiteten Reformen der Bankenaufsicht dazu bei, die Überwachung zu verbessern und die Stabilität des Bankensektors zu erhöhen. Auch wenn sich der systemische Druck im Jahr 2022 erhöhte, war diese Phase von relativ kurzer Dauer, was teilweise darauf zurückzuführen ist, dass die Risiken für ein Übergreifen vom Finanzsektor auf die Realwirtschaft geringer waren.
Die Anleihekurse spiegeln die neuen Gegebenheiten wider
Dank dieser zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen verliefen die ersten Phasen der geldpolitischen Straffung durch die EZB plangemäß: Die quantitative Straffung im Rahmen des APP, die im März 2023 begann, gestaltet sich reibungslos, und die Ankündigung, dass das PEPP ausläuft und eingestellt wird, hat die Spreads der Staatsanleihen nicht beeinträchtigt.
Die Spreads der Staatsanleihen von Peripherieländern befinden sich weiterhin auf bzw. nahezu auf dem niedrigsten Stand seit der Krise von 2008. Dies ist sowohl der stabilen Binnenkonjunktur als auch der geringeren Empfindlichkeit gegenüber Veränderungen der Marktstimmung geschuldet (Abbildung). Auch hier nimmt Italien eine Sonderstellung ein. Die Spreads der BTP gegenüber Bundesanleihen sind zwar geringer als während der Staatsschuldenkrise, bleiben jedoch aufgrund der strukturellen Probleme Italiens schwankungsanfällig. Wir gehen trotzdem davon aus, dass diese Spreads bei einem reibungslosen Voranschreiten der quantitativen Straffung weiter um den aktuellen Wert schwanken werden.
Die „Peripherie“ ist bald Geschichte
Wir schätzen die Aussichten für EU-Staatsanleihen optimistischer ein. Günstigere strukturelle und aufsichtsrechtliche Bedingungen dürften dazu beitragen, einer unverhältnismäßigen Kreditaufnahme entgegenzuwirken und systemische Schocks zu verhindern. Zudem gehen wir davon aus, dass die EZB im Sommer mit Zinssenkungen beginnen wird, wodurch sich im Laufe der Zeit die Finanzierungskosten für staatliche Kreditnehmer in der Eurozone verringern würden.
In Anbetracht dieser Veränderungen sollten sich Anleger unserer Meinung nach nicht auf systemische Bedenken, sondern auf die Vorzüge einzelner Emittenten in der Eurozone konzentrieren. Im Jahr 2008 boten die EU-Peripherieländer vielleicht noch ein einheitlicheres Bild, aber heute unterscheiden sie sich so stark voneinander, dass sie nicht mehr als Block betrachtet werden sollten. Tatsächlich werden die leistungsfähigeren unter ihnen zunehmend als „Semi-Kernländer“ bezeichnet.
Italien bleibt ein spezieller Fall. Unseres Erachtens sind hierfür eher individuelle als systembedingte Gründe verantwortlich. Wir halten die italienische Politik für den wichtigsten Einflussfaktor auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und sind überzeugt, dass Anleger die politischen Verhältnisse in Italien genau im Auge behalten sollten. Heutzutage vermag ein Rückschlag für Italien die Spreads der Staatsanleihen in der Eurozone vielleicht etwas zu erschüttern. Eine Katastrophe würde er unserer Einschätzung nach nicht auslösen.
Von Sandra Rhouma, European Economist—Fixed Income; John Taylor, Director—Global Multi-Sector und Nicholas Sanders, CFA, Portfolio Manager—Global Multi-Sector bei AllianceBernstein