Von John Greenwood, Chefökonom Invesco Ltd.
Bei seiner jüngsten Sitzung am 12. März hieß es vom Zentralbankrat der Europäischen Zentralbank (EZB) explizit, die Bank sehe „keine wesentlichen Anzeichen für Spannungen an den Geldmärkten oder für Liquiditätsengpässe im Bankensystem“. Daher traf der Zentralbankrat auch nur drei eher zaghafte Entscheidungen: (1) die vorübergehende Bereitstellung zusätzlicher längerfristiger Refinanzierungsgeschäfte (LTRO) bis zum Beginn des TLTRO III Programms im Juni, (2) deutlich günstigere Bedingungen für alle TLTRO-III-Geschäfte einschließlich einer Lockerung der Kriterien für Sicherheiten und (3) die Ausweitung des bestehenden Programms zum Ankauf von Vermögenswerten um „vorübergehende zusätzliche Nettoankäufe in Höhe von 120 Milliarden Euro …bis Jahresende.“
Alle drei Maßnahmen standen vollständig im Einklang mit der wichtigen Rolle einer Zentralbank als „Kreditgeber letzter Instanz“ („Lender of last Resort“). Angesichts einer Panik, wie wir sie zuletzt an den Märkten erlebt haben, empfahl der bekannte Ökonom aus dem 19. Jahrhundert, Walter Bagehot (Autor des Buchs „Lombard Street“ aus dem Jahr 1873), allerdings ein anderes Heilmittel: Solange die Sicherheiten stimmen, sollten die Zentralbanken freigiebig Geld verleihen, dem Markt die zusätzliche Liquidität aber wieder entziehen, wenn die Panik vorbei ist. Das einzige Problem war demnach das zu geringe Volumen: Die von der EZB angekündigten 120 Milliarden Euro entsprachen gerade einmal 2,5% ihrer Bilanzsumme.
Zum Glück hat die EZB nicht lange gezögert. Nicht einmal eine Woche später scheint sich die Bank vom regulatorischen Korsett und den intellektuellen Orthodoxien, in denen sie in den vergangenen zehn Jahren gefangen war, teilweise befreit zu haben. Ihre Ankündigung vom 18. März begann mit der kühnen Erklärung, die EZB werde „alles Notwendige innerhalb unseres Mandats unternehmen, um alle Bürger der Eurozone in dieser extrem herausfordernden Zeit zu unterstützen.“ Diese Ankündigung markierte eine bemerkenswerte Kehrtwende in der offiziellen Haltung der EZB, und das nur eine Woche nach Madame Lagardes Fauxpas – der Bemerkung, dass das Schließen der Spreads im Euroraum nicht Aufgabe der EZB sei, für die sie sich anschließend entschuldigte.
So kündigte der Zentralbankrat ein ganz neues Programm mit deutlich größerer Dimension an: ein neues, temporäres Pandemic Emergency Purchase Programme mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro, das mindestens bis zum Jahresende laufen soll (natürlich hat die EZB auch für das Corona-Notprogramm wieder eine griffige Abkürzung gefunden: PEPP). Das neue Programm ist auch flexibler strukturiert. Beispielsweise wird die EZB bei ihren Assetkäufen von ihrem Kapitalschlüssel abweichen und zum Beispiel bei Bedarf vorübergehend mehr italienische Staatsanleihen ankaufen können – griechische Staatsanleihen sollen unter diesem Programm jetzt ebenfalls angekauft werden. Schließlich werden die Ankäufe von Unternehmensanleihen aus dem Privatsektor auf kurzfristige Schuldverschreibungen von Nicht-Finanz-Unternehmen ausgeweitet. Das Gesamtvolumen des Programms von 750 Milliarden Euro entspricht einem monatlichen Ankaufvolumen von rund 80 Milliarden Euro. Nach der am 12. März in Aussicht gestellten Ausweitung der EZB-Bilanz um 2,5% stellt das PEPP jetzt eine Ausweitung der Bilanzsumme um 16% dar.
Diese Maßnahmen haben bereits zu einer deutlichen Spreadverengung bei italienischen Staatsanleihen geführt. Es wird aber noch mehr unternommen werden müssen. Vor allem: Je mehr Wertpapiere die EZB von Nicht-Banken ankaufen kann, desto besser. Grund dafür ist, dass durch Anleihenankäufe von Banken kein neues Geld in den Geldkreislauf der Realwirtschaft gelangt, während Ankäufe von Nicht-Banken durch die Schaffung neuer Einlagen bezahlt werden. Anders ausgedrückt: Die Auswirkungen auf das Geldmengenwachstum wären erheblich größer, wenn die EZB den „direkten Weg“ nähme – und in einer Zeit, in der die Banken dies vielleicht nur zögerlich tun, neues Geld in Umlauf brächte.
Es gibt noch sehr viel, dass wir nicht über dieses neuartige Coronavirus wissen. Niemand kann genau sagen, wie heftig der wirtschaftliche Abschwung, dem die Eurozone und andere Volkswirtschaften jetzt entgegensehen, ausfallen wird – oder wie lange er andauern wird. Aus den jüngsten Erfahrungen und Maßnahmen in China, Südkorea, Singapur und Hongkong lassen sich jedoch einige Schlüsse ziehen. Wenn drastische Beschränkungen des öffentlichen Lebens durchgesetzt und lange genug aufrechterhalten werden, können die Infektionsraten dramatisch gesenkt und Covid-19 eingedämmt werden. In China gibt es bereits erste Hinweise darauf, dass sich die Wirtschaft wieder zu erholen beginnt. Es gibt keinen Grund, warum Europa in den nächsten Wochen nicht Ähnliches gelingen sollte.
In diesem Zusammenhang ist es eine große Erleichterung, dass der Zentralbankrat der EZB unter seiner neuen Führung endlich das Ausmaß dieser Herausforderung erkannt und entsprechend reagiert hat. Aktuell werden das öffentliche Leben und die wirtschaftlichen Aktivitäten in Europa auf breiter Basis massiv heruntergefahren. Dadurch und durch unvermeidbare Unterbrechungen von Liefer- und Zahlungsketten ist ein massiver konjunktureller Abschwung kurzfristig möglich. Jetzt, da die Zentralbanken und Regierungen aber auf sehr viel entschlossene und weitreichendere Gegenmaßnahmen setzen, sind die Aussichten, dass diese Krise in einem überschaubaren zeitlichen Rahmen überwunden werden kann, deutlich besser geworden.