Die ersten Unternehmen legen ihre Zweitquartalszahlen vor, und der S&P 500 liegt nur um knapp 7% unter seinem Allzeithoch. Das ist ein guter Zeitpunkt, um die erste Jahreshälfte Revue passieren zu lassen und zu überlegen, was die nächsten sechs Monate zu bieten haben.
Ein großes Thema waren dieses Jahr die stabilen Märkte, die uns und viele andere überrascht haben. Kompliziert wurde es aber durch etwas anderes: Die „Geschichte von zwei Indizes“. Die Gewinne entfielen fast ausschließlich auf eine Handvoll Mega Caps, also hochkapitalisierte Technologieaktien.
Wenig Konsens
Hat die Rallye also noch Potenzial? Um das zu wissen, müssen wir ihre Gründe kennen und abschätzen, ob sie bestehen bleiben. Aber allein das ist nicht einfach. Der Markt und vor allem die Super Seven (Apple, Microsoft, Google, Meta, NVIDIA, Amazon und Tesla) schienen auf jede gute Nachricht zu reagieren, selbst wenn sie einander widersprachen.
Erst schien es nur um Kapitalströme zu gehen – um Investoren, die Short-Positionen eindeckten und die großen Verlierer des Vorjahres kauften. Als nach der Mini-Bankenkrise Anleihenrenditen und Leitzinserwartungen fielen, wurden die Super Seven plötzlich als defensive Titel mit langer Duration gefeiert. Danach galten die Liquiditätsspritzen, mit denen die Notenbanken gegen die Minikrise angingen, als Argument – bis schließlich Künstliche Intelligenz zum alles beherrschenden Thema wurde und man mit enormen Produktivitätsgewinnen rechnete.
Am wichtigsten für den Markt als Ganzes war aber wohl die stabile US-Konjunktur. Die Einkaufsmanagerindizes sind gestiegen, der US-Dollar ist gefallen. Das US-BIP dürfte in der ersten Jahreshälfte um etwa 2,1% (annualisiert) zugelegt haben, und da die Fed ihre Zinssenkungen wahrscheinlich bald beendet, wurden die Investoren euphorisch.
Weil sich all diese Entwicklungen so schwer bewerten lassen und noch dazu das Marktmomentum so groß ist, hat das Asset Allocation Committee seine Aktienmarkteinschätzung auf neutral angehoben. Trotz des zurückhaltenden Mittelfristausblicks sehen wir kurzfristig durchaus Chancen.
Damit stehen wir nicht alleine da. Doch selten waren die Markteinschätzungen so unterschiedlich, nicht nur in unserem Asset Allocation Committee, sondern auch unter Aktienstrategen insgesamt. Da wir vermutlich vor einem wichtigen Wendepunkt stehen – die Wirtschaft könnte entweder weiter wachsen oder unter der Last der strafferen Geldpolitik schwächeln –, ist diese Meinungsvielfalt nur zu verständlich.
Gewinne
Marktdynamik und Marktstimmung sind gut. Entscheidend dafür, ob unser Asset Allocation Committee Aktien am Ende doch wieder konservativer einschätzt oder mit weiteren Erträgen rechnet, dürften aber die Unternehmensgewinne sein.
Laut FactSet sind die Konsenserwartungen für die Zweitquartalsgewinne des S&P 500 das ganze Jahr über gefallen, auf zuletzt 52 US-Dollar je Aktie. Das wäre ein Rückgang um 6,4% z.Vj. Am optimistischsten ist man für Konsumgebrauchsgüterwerte, am pessimistischsten für den Energiesektor. Da für das 1. Quartal zunächst ein Rückgang um 5,9% erwartet wurde – am Ende wurden es dann 1,3% –, scheint für das 2. Quartal ein Minus von 4% bis 5% denkbar. Fast wichtiger als die tatsächlichen Gewinne sind aber die Gewinnausblicke. Wir glauben, dass das zurzeit nicht leicht einzuschätzende Konjunkturumfeld die Unternehmen zur Vorsicht mahnt.
In der zweiten Jahreshälfte und auch im nächsten Jahr könnten die Unternehmensgewinne aber wieder steigen. Erwartet werden 55 US-Dollar je Aktie im 3. Quartal, also ein Anstieg von 1% z.Vj., und 57 US-Dollar im 4. Quartal, ein Anstieg um 8,5%. Mit 218 US-Dollar je Aktie wären die Jahresgewinne der S&P-500-Titel dann um 1,1% höher als 2022. Für 2024 rechnen die FactSet-Analysten mit 12% Wachstum.
Schwächeres Nominalwachstum
Und die Gesamteinschätzung? Die Analysten glauben, dass die Gewinne der S&P-500-Werte ihren Tiefpunkt erreicht haben.
Wir sind da nicht so sicher.
Wir glauben vielmehr, dass Investoren, die Gewinne meist als eine nominale Größe ansehen, das hohe nominale BIP-Wachstum überbewerten. Aber auch das reale BIP-Wachstum ist mit durchschnittlich 2% gar nicht so schlecht, vor allem angesichts der raschen und starken Zinserhöhungen der letzten Zeit. Die jüngsten US-Inflationsdaten sprechen aber dafür, dass das nominale Wachstum jetzt fällt.
Der Unterschied zwischen nominalem und realem Wachstum, in dem wir letztes Jahr einen möglichen Grund dafür sahen, dass ein konservativer Ausblick übertroffen wird, wirkt jetzt in die andere Richtung. Das könnte unsere zurückhaltenden Erwartungen bestätigen, vor allem, wenn das so hartnäckig hohe Lohnwachstum allmählich die Margen schrumpfen lässt.
Man sollte die Gewinnerwartungen für den S&P 500 auch gesamtwirtschaftlich einordnen. Nach den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) des US Bureau of Economic Analysis sind die Unternehmensgewinne in den USA seit dem 2. Quartal 2022 kontinuierlich gefallen. Im 1. Quartal 2023 lagen sie dann 12% unter ihrem Höchststand.
Verzögert ist nicht abgesagt
Wirtschaftswachstum und Unternehmensgewinne haben erst später nachgelassen als von uns erwartet. Die prognostizierte Marktschwäche trat ebenfalls nicht ein, vor allem wegen des hohen Nominalwachstums, der stabilen Gewinnmargen, dem vorübergehend starken Wachstum im 1. Quartal nach dem Neustart Chinas, der nachlassenden Energiekrise in Europa und nicht zuletzt der Liquiditätsspritzen nach der Mini-Bankenkrise.
Verzögert ist aber nicht abgesagt. Der Abschwung mag bislang milde sein, aber wir glauben nicht, dass er weitgehend ausbleibt. Dafür sprechen die fallenden Anleihenrenditen, die nachlassenden Unternehmensgewinne in der amerikanischen VGR, der schwächere Arbeitsmarkt, die niedrigere Inflation sowie andere Frühindikatoren. Wir werden deshalb darauf achten, ob die Zweitquartalsberichte auf das schwächere Nominalwachstum reagieren und wie sich dies auf die Gewinnschätzungen bis zum Jahresende auswirkt.
Unsere zurzeit neutrale Aktienpositionierung bildet die widersprüchlichen Daten am gegenwärtigen Wendepunkt ab, vor allem das stabile nominale Wachstum und die noch immer nur geringen Auswirkungen der strafferen Geldpolitik. Ihre volle Wirkung steht noch aus. Die nächsten sechs Monate werden zeigen, wie es weitergeht.
Von Joseph V. Amato, President und Chief Investment Officer – Equities bei Neuberger Berman