Von Maschinen, die der menschlichen Intelligenz das Wasser reichen können, sind wir noch weit entfernt. Aber: KI-Anwendungen können heute schon spezielle Probleme anhand vorliegender Daten lösen. Anders als bei regelbasierten Systemen geben Programmierer KI-basierten Prozessen nicht vor, wie diese auf die Anwenderschritte reagieren sollen. Sie definieren stattdessen Algorithmen, die selbstständig lernen, Muster zu finden und Entscheidungen zu treffen. Ein KI-System verfügt weder über Intuition, noch Verstand, und muss daher anhand vieler Beispiele – also enorm großer Datenmengen – angelernt werden. Das nennt man auch maschinelles Lernen. KI ist regelbasierten Systemen insofern überlegen, weil es auf neue Situationen reagieren und aus Erfahrungen lernen kann.
Maschinelles Lernen und Edge AI auf dem Vormarsch
Eine anspruchsvolle Methode des Machinellen Lernens ist das Deep Learning. Heißt: KI-Systeme imitieren mit künstlichen neuronalen Netzwerken das unfassbar komplexe, aus über 80 Milliarden miteinander vernetzten Nervenzellen bestehende Gehirn. In der Lernphase füttert man ein künstliches Netzwerk, das z.B. Gesichter erkennen soll, mit einer Unmenge an Gesichtsbildern und bestätigt jedes Mal ein richtig erkanntes Gesicht. Bei einem „OK“ verstärkt das Netzwerk die Verbindungen, die zum richtigen Ergebnis geführt haben. Diejenigen, die zum falschen Ergebnis geführt haben, werden schwächer. Nach vielen Versuchen wird das System intelligenter und verbessert sich selbstständig weiter. Auf dieser Basis hat das KI-System Watson von IBM gelernt, Krebszellen zu erkennen. Künstliche Intelligenz ermöglicht auch Gefühls- und Spracherkennung, automatisiertes Fahren oder Übersetzungen in Sekundenschnelle. Bislang fand KI primär in leistungsfähigen Supercomputern oder in der Cloud statt. Doch zunehmend gewinnt das sogenannte Edge AI an Bedeutung. Hier werden die Daten dezentral, also direkt in einem Endgerät verarbeitet. Der Vorteil: Die Übertragungszeit entfällt.
Von Cloudgeschäft bis autonomes Fahren: US-Techriesen vorn dabei
Den Markt für Hochleistungsprozessoren teilen sich die beiden US-Chipentwickler AMD und NVIDIA, wobei NVIDIA bei Marktanteil (aktuell ca. 70 Prozent) und Leistungsfähigkeit führend ist. Die US-Holding Alphabet besitzt mit dem KI-Chip TPU2 auch einen Hochleistungsprozessor, der zusammen mit dem US-Halbleiterunternehmen Broadcom entwickelt wurde und stark in der Weiterentwicklung von KI engagiert ist. Zudem ist der Alphabet-Ableger Waymo neben Tesla und dem chinesischen Internetunternehmen Baidu führend in der Entwicklung des autonomen Fahrens. Und: Alphabet ist besonders weit in der KI-basierten Spracherkennung und dem Einsatz von KI im Cloudgeschäft. Den Werkstoff, also die Massen an benötigten Daten, liefern u.a. die sozialen Medien, Suchmaschinen und der Online-Handel.
Chinesische Tech-Riesen dringen in den FinTech-Bereich vor
Reine Online-Bezahlsysteme waren nur der Anfang. Der Online-Bezahldienst PayPal nutzt KI, um Betrugsversuche im Zahlungssystem aufzudecken, und andere Banken und Finanzdienstleister bewerten so Kreditausfallsrisiken. Der chinesische Tech-Riese Tencent etwa will vor allem in seiner Finanzdienstleistungssparte wachsen und ist neben Alibaba bereits heute führend in der Zahlungsabwicklung. Über WeChat, das chinesische WhatsApp, sammelt der Konzern umfangreiche Daten und nutzt sie u.a. für die Bewertung von Zahlungsverhalten und Kreditrisiken. Der Zugriff auf Kundendaten und Big-Data-Kompetenz sollten Tencent einen Wettbewerbsvorteil gegenüber klassischen Anbietern verschaffen. Mittelfristig will man größter Anbieter maßgeschneiderter Finanzdienstleistungen in China werden.
KI definiert Vermögensverwaltung neu
Perspektivisch könnte KI selbstständig eine gesamte Vermögensverwaltung steuern. Schon jetzt betreibt der weltgrößte Vermögensverwalter BlackRock über vier Rechenzentren das Analysesystem Aladdin. Dieses verarbeitet eine täglich wachsende Menge historischer Daten und wählt aus der Vielzahl möglicher Szenarien die mit der höchsten Wahrscheinlichkeit aus. Daraus entsteht ein statistisches Bild zukünftiger Szenarien, die sich für Wertpapierportfolios unter verschiedenen künftigen Rahmenbedingungen ergeben. So lassen sich Stresstests vollziehen, indem man z.B. simuliert, wie sich eine Pleite à la Lehman Brothers aus dem Jahr 2008 auf ein Portfolio auswirkt. Aktuell ist Aladdin aber noch weit entfernt von einer rein KI-basierten Vermögensverwaltung und benötigt weiterhin einen Portfoliomanager aus Fleisch und Blut. Die Vorteile eines KI-Systems liegen aber auf der Hand: Es kann Unmengen an Informationen sehr schnell verarbeiten – und Emotionen haben auf seine Anlageentscheidungen keinen Einfluss.
Gesünder dank KI
Auch in der Gesundheits- und Pharmabranche dürfte KI enorme Fortschritte möglich machen. Die Entwicklung neuer Medikamente wird immer aufwändiger: Die Entwicklungskosten verdoppeln sich etwa alle 5 Jahre, und 90 Prozent aller Neuentwicklungen werden gar nicht erst zugelassen. Hier könnte ein entsprechendes KI-System in kürzester Zeit eine Vorauswahl treffen, etwa indem es Millionen von Molekülen auf ihre spezifische Eignung als Medikament gegen eine bestimmte Erkrankung hin analysiert. So will NVIDIA bis Ende 2020 den neuen Supercomputer Großbritanniens, Cambridge-1, mit einer Rechenleistung von 400 Petaflops in Betrieb nehmen. Ein Petaflop sind 1.000 Bio. „floating-point operations“ bzw. mathematische Operationen pro Sekunde, was etwa drei Millionen Mal mehr Rechenoperationen ermöglicht als bei Alltagsrechnern. Die Pharmakonzerne GlaxoSmithKline und AstraZeneca, die beide an der Entwicklung eines Corona-Impfstoffes arbeiten, sollen als erste Zugriff auf den Cambridge-1 erhalten.
Schon heute sind KI-Systeme wie IBMs Watson in der medizinischen Diagnostik im Einsatz. Es erkennt und klassifiziert z.B. Krebszellen. Watson soll auch etablierte Diagnosearten optimieren und die medizinische Grundlagenforschung wie Genetik und Zellentwicklung beschleunigen. KI bringt auch die Genomforschung rasant voran und hat vor allem das Next-Generation-Sequencing, ein Hochdurchsatzverfahren zur Entschlüsselung der DNA, vorwärts katapultiert. Vor nicht einmal 20 Jahren hat die vollständige Sequenzierung des ersten menschlichen Genoms drei Milliarden Euro verschlungen und 13 Jahre gedauert. Heute entschlüsselt man Genome innerhalb von Tagen.
Autonomes Fahren – nur noch eine Frage der Zeit
KI wird das autonome Fahren möglich machen. Eine Vielzahl von Kameras sowie Lidar- und Radarsensoren erfassen die Daten der Umgebung, und ein Hochleistungsprozessor im Auto verarbeitet sie in Echtzeit. Damit ist autonomes Fahren auf der Autobahn oder im Stau heute schon möglich, ebenso wie das automatische Einparken. Zwar ist man wahrscheinlich noch Jahrzehnte entfernt vom echten autonomen Fahren, jedoch sind die Grundlagen gelegt. Verkehrsflüsse könnten durch das Zusammenwirken von vernetzten Fahrzeugen, Verkehrsbeobachtungssystemen und der Kommunikation von Navigationssystemen untereinander deutlich optimiert werden. Eine Vielzahl von Unternehmen aus der Old- und New-Economy arbeiten dafür aktuell zusammen: Automobilhersteller wie Daimler, BMW und Tesla, Zulieferer wie Continental und Bosch, Halbleiterhersteller wie NVIDIA und Intel und Technologieriesen wie Alphabet und Apple. Dem Ziel eines autonom fahrenden PKWs sind aktuell Alphabet mit Waymo, Baidu und Tesla wohl am nächsten. Bei den Hochleistungsprozessoren scheinen sich die Systeme NVIDIA und Intel durchzusetzen.
Transformation der Old Economy
Dank Big Data reichen die Anwendungsmöglichkeiten von KI in immer mehr Lebensbereiche: Von Spracherkennung, Robotik und Marketing über Banking, Kundenpflege und Mobilität hin zu Telemedizin und Cyber Security – zahlreiche Branchen der Old Economy werden sich früher oder später umstellen müssen. So zeigen z.B. Pilotprojekte von ersten KI-basierten Fabriken bei BMW oder Kion, einem deutschen Lagertechnik-Anbieter, dass der vollautomatisierte, flexible Betrieb von Logistikzentren funktioniert. Roboter übernehmen die Fertigung und die verschiedenen Prozesse, und der Mensch übernimmt lediglich das Antrainieren der Roboter und das Überwachen der Prozesse.
Zwei Branchen spüren den Wandel besonders stark: Die Automobilindustrie könnte an Stellenwert verlieren, wenn mit Hilfe von KI effizientere und kostengünstigere Mobilitätskonzepte entstehen, und das eigene Auto an Attraktivität verliert. Beim autonomen Fahren könnte dagegen Alphabet, mit Waymo und dem Kartenmaterial von Google Maps, zu einem Konkurrenten heranwachsen. Auch klassische Finanzdienstleister könnten in Bedrängnis geraten: FinTech-Dienstleister beschränken sich heute längst nicht mehr auf Zahlungsdienstleistungen, sie bieten auch Lösungen für Investments, Beratung und Kreditwesen an.
Fazit: KI ist im Alltag verankert – und vielseitiger Wachstumstreiber
Schon heute ist KI in vielen Gebieten wie Produktion, Qualitätsprüfung, Logistik, Kundenpflege oder Telemedizin im Einsatz. Im Alltag unterstützen uns z.B. Alexa oder Siri als persönliche digitale Assistenten – und KI-Systeme ermöglichen es, einzuparken und staubzusaugen ohne eigenes Zutun. So dürfte KI künftig in immer mehr Lebens- und Arbeitsbereichen Einzug halten und über alle Branchen hinweg eine zunehmend wichtigere Rolle spielen. Ein spannendes und vielschichtiges Anlagethema für die nächsten Jahre.
Hagen Ernst, stellvertretender Leiter des Bereichs Research & Portfoliomanagement bei der DJE Kapital AG