Die Gewerkschaften gehen mit historisch hohen Lohnforderungen in die aktuellen Tarifverhandlungen. Im öffentlichen Dienst sollen die Löhne um 10,5% steigen, für die unteren Lohngruppen sogar um bis zu 25%. Die Forderungen in der Metall- und der chemischen Industrie dürften ebenfalls im zweistelligen Bereich liegen. Als Grund für die hohen Forderungen wird der starke Verlust der Kaufkraft durch den Inflationsanstieg angeführt. Die Argumente ähneln denen in den 1970er Jahren, als die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst eine Lohnsteigerung um 11% durchsetzten (Kluncker-Runde).
Heute spiegelt sich darin auch eine zunehmende Vollkaskomentalität der Gesellschaft, die sich auch in den Rufen nach Energiepreisdeckeln und Entlastungen durch die Politik zeigt. Gleichwohl müssen Politik wie Tarifpartner das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale ernstnehmen. Die deutsche Wirtschaft leidet (noch) nicht unter einer Nachfrageschwäche. Vielmehr ist vor allem das Angebot im Energiebereich beschränkt und wird es absehbar auch bleiben und die Produktivitätsentwicklung ist in vielen Bereichen sehr begrenzt.
Auch deshalb muss der Grundsatz gelten, dass sich die Lohnsteigerungen an der mittelfristigen Entwicklung von Preisen und Produktivität orientieren sollten. Die aktuellen Kaufkraftverluste durch die Energiepreissteigerungen können auch über die Lohnseite nicht voll kompensiert werden, ohne den Inflationsdruck mittelfristig weiter anzuheizen und die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft im internationalen Vergleich weiter zu erodieren. Gleiches gilt für die Entlastungspakete der Politik. Das ist auch für die Gewerkschaften relevant, denn eine noch höhere Inflationssteuer würde gerade die unteren Einkommen erneut überproportional treffen. Klar ist: Deutschland kann den höheren Energiekosten kurzfristig nicht ausweichen. Ein gewisser Wohlfahrtsverlust muss akzeptiert werden. Umso mehr sollte der Fokus auf eine nachhaltige Adjustierung des Geschäftsmodells gelegt werden, um dauerhaft höhere Energie- und Beschaffungskosten zu vermeiden. Sollte dies nur mangelhaft gelingen, ist der aktuell hohe Beschäftigungsstand in Gefahr. Andere Länder innerhalb und außerhalb des Euro-Raums haben bereits über niedrigere Energiekosten und höherem Produktivitätswachstum an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Deutschland gewonnen. Um Brücken über den Verlust an Kaufkraft zu bauen, ohne in einen „Automatismus“ zu geraten, bieten sich Einmalzahlungen vor allem im Bereich der unteren Einkommen an. Zumal diese bis zu einer Höhe von 3.000€ nach Plänen der Bundesregierung steuer- und abgabenfrei an die Beschäftigten ausbezahlt werden können
Dr. Johannes Mayr, Chefvolkswirt bei Eyb & Wallwitz