Auf ihrer heutigen Sitzung hat die EZB ihre Leitzinsen erneut um 75 Basispunkte angehoben. Der Einlagensatz liegt damit bei 1,5 % und noch etwa 100 Basispunkte unter dem am Markt gepreisten Zinsgipfel. Etwas überraschend diagnostiziert der EZB-Rat erstmals „substanzielle Straffungsfortschritte“ und signalisiert damit, dass die kommenden Zinsschritte bereits etwas kleiner ausfallen könnten. Für die Größe der kommenden Zinsschritte sollen neben dem Inflationsausblick auch die bisherigen Straffungsschritte und deren verzögerte Wirkung berücksichtigt werden. Hintergrund dürfte auch sein, dass sich die Finanzierungskonditionen sowohl am Kapitalmarkt als auch am Kreditmarkt bereits deutlich stärker eingetrübt haben als der Zinspfad der EZB suggeriert. Einen ungewöhnlich großen Anteil der geldpolitischen Straffung übernimmt der Finanzmarkt durch Impulse von außen, insbesondere durch die FED. Um die durch die Zinswende sich auftürmenden Netto-Zinszahlungen an die Banken zu begrenzen hat die EZB zudem die Konditionen ihrer längerfristigen Liquiditätsgeschäfte (TLTRO) angepasst und macht diese damit weniger attraktiv.
Aussichten für Anleger
Die Diagnose von „substanziellen Straffungsfortschritten“ deutet an, dass die EZB das neutrale Zinsniveau nach wie vor in einem Bereich zwischen 1,5 und 2 % sieht und damit rechnet, mit einer moderaten weiteren Anhebung der Leitzinsen einen ausreichend starken Abwärtsdruck auf die Konjunktur und damit die Inflation zu erreichen. Dabei sieht der EZB-Rat zunehmend auch Risiken einer Überstraffung. Gleichzeitig bestätigt die EZB mit der heutigen Entscheidung, dass sie dem Finanzmarkt den Großteil der geldpolitischen Straffung für Europa überlässt. Die Abkehr vom Prinzip der Forward Guidance erhöht allerdings die Datenabhängigkeit und spricht für eine anhaltend hohe Volatilität am Markt für europäische Staatsanleihen. Das gilt vor allem deshalb, da die kommenden Inflationsdaten weiterhin hoch ausfallen dürften. Vor diesem Hintergrund sollten Investoren weiterhin vor allem auf den Kurs der FED blicken, um Chancen und Risiken auch am europäischen Markt einzuordnen.
Dr. Johannes Mayr, Chefvolkswirt bei Eyb & Wallwitz.