Blaise Pascal, dessen Name heute in keiner Wettervorhersage fehlen darf, war ein Wunderkind. In seinem Spielzimmer entdeckte er eigenständig die meisten Sätze der euklidischen Geometrie, indem er Diagramme auf die Fliesen zeichnete. Im Alter von 16 Jahren schrieb er einen derart klaren Aufsatz über die Mathematik des Kegels, dass sich selbst der große Descartes davon beeindruckt zeigte. Noch als Teenager erfand der junge Pascal eine Rechenmaschine, die Pascaline, um dem Vater, der sein Geld als Steuerpächter verdiente, die mühsame Aufgabe des Addierens der täglichen Geldflüsse zu erleichtern. Über einen Umweg (die sogenannte Komplementärmethode) ließen sich auf der Pascaline sogar Subtraktionen durchführen.
1646 brach sich der Vater die Hüfte. Die herbeigerufenen Knochenärzte gehörten zu den Jansenisten, einer sehr frommen und asketischen katholischen Gruppierung. Nach der Reparatur der Hüfte von Pascal „père“ blieben die Jansenisten noch drei Monate im Haus, um an der Seele von Pascal „fils“ zu arbeiten. Unter ihrem Einfluss gab er sowohl Mathematik als auch Wissenschaft auf und widmete sich nun ganz der Religion.
In dieser Zeit frommer Askese begann Pascal an teilweiser Lähmung, Schluckbeschwerden und unerträglichen Kopfschmerzen zu leiden. Ärzte, die keine Jansenisten waren, rieten ihm, seine frühere Lebensweise wieder aufzunehmen. Diese Kur schlug erfreulich schnell an. Als sein Vater bald darauf starb, verfügte Pascal plötzlich über erhebliche Finanzmittel, die er nicht nur in Alkohol und gutes Essen investierte: Er wurde ein regelmäßiger Besucher der Spieltische von Paris. Dort fand er die Inspiration für eine völlig neue Sicht auf den Roulettetisch und so wurde er (zusammen mit dem ebenso genialen Pierre de Fermat) einer der Väter der Wahrscheinlichkeitsrechnung und des mathematischen Risikobegriffs.
Für Gott ins Risiko gehen
Da Pascal noch immer ein frommer Mann war, wandte er seine im Casino gewonnen Erkenntnisse bald auf die Religion an. Berühmt wurde er unter Theologen durch seine Wette auf die Existenz Gottes, die etwa so lautet: Wenn es Gott gibt und der Lohn für eine fromme Existenz das ewige Leben im Paradies ist, so lohnt es sich jedenfalls, sein irdisches Hab und Gut dafür aufs Spiel zu setzen. Denn selbst wenn wir die Existenz Gottes für wenig wahrscheinlich halten, so ist doch selbst eine unwahrscheinliche Aussicht auf einen unendlichen Gewinn (das Paradies) höher einzuschätzen als die relative Sicherheit unseres endlichen und vergänglichen weltlichen Besitzes. Modern ausgedrückt: Die Annahme, dass es Gott nicht gibt, ist mit erheblichen Opportunitätskosten verbunden. Der Erwartungswert des Gewinns aus der Annahme der Existenz Gottes übersteigt jeden möglichen sicheren Gewinn im Diesseits. Also sollten wir so leben, als gäbe es Gott.
Pascal betrachtete das Eingehen von Risiken nicht als eine bloße Option, sondern als eine Notwendigkeit. Jeder von uns sitzt am Spieltisch des Lebens. Niemand kommt der Wette auf die Existenz Gottes davon, selbst wenn man nie von Pascal gehört hat oder seinem Argument nicht folgt. Auch wer das irdische Wohlbefinden ins Zentrum seines Strebens stellt, trifft eine Entscheidung, egal ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Da die Existenz Gottes niemals sicher ausgeschlossen werden kann, lebt man immer mit der Entscheidung für oder wider das Leben im Paradies.
Von der Belohnung des Risikos
Das Argument lässt sich für gebildete Investoren veranschaulichen durch die Unmöglichkeit, risikolos mit Geld umzugehen. Jeder Anleger muss sich entscheiden, ob er (a) geringe Risiken eingeht und mit einem geringen Ertrag auskommen und hohe Opportunitätskosten in Kauf nehmen kann, ob er (b) ein moderates Risiko eingeht mit der Erwartung einer einigermaßen auskömmlichen Rendite, oder ob er (c) ein hohes Risiko eingeht, das zu hohen Verlusten oder plötzlichem Reichtum führen kann.
Keine der drei Möglichkeiten ist risikolos, jede hat ihre eigenen Tücken. Die Möglichkeit (a) wird vom typischen deutschen Sparer bevorzugt, der sich auf die staatliche Rente verlässt und sein Geld in Sparbüchern, Pfandbriefen und Lebensversicherungen parkt. Sein Risiko besteht darin, dass er seine finanzielle Zukunft auf das Wort eines Politikers gründet („die Rente ist sicher“), das dieser nicht einlösen muss. Zudem ist die Inflation ohnehin der Feind jedes Parkens von Geld in Cash.
Die Möglichkeit (b) ergreifen Anleger, die ihre Ersparnisse in gemischte Geldanlagen aus Aktien, Anleihen oder Immobilien investiert haben. Unternehmen können pleitegehen, Anleihen sind von Inflation und Zahlungsunfähigkeit des Schuldners bedroht. Und Immobilien können ebenfalls erheblich im Wert fallen, wie etwa die Anleger eines fünf Milliarden Euro großen Wohnimmobilienfonds in der letzten Woche feststellen mussten: Er wurde um knapp 17% abgewertet.
Die Möglichkeit (c) ergreifen Anleger, die es sich leisten, ihrem Unternehmergeist auch in der Geldanlage einen gewissen Raum einzuräumen, sowie Spekulanten, die das Risiko ihrer Entscheidungen oft nicht richtig einschätzen können. Ihr Vorbild ist entweder Blaise Pascal oder Michael Jordan, der über 9.000 Fehlwürfe in seiner Karriere zu verzeichnen hatte, aber dennoch als der GOAT (Greatest of all times) gilt. Natürlich geht es nicht immer gut, wenn man auf dem Spielfeld steht. Aber nicht zu werfen ist auch keine gute Strategie, wenn man gewinnen will.
Wie würde Pascal investieren?
Pascal würde heute den Spieltisch gegen die Börse eintauschen. Da er weiß, dass er ohnehin wetten muss, würde er in Aktien oder Unternehmensanleihen investieren, gelegentliche Verluste mit Gleichmut ertragen und auf Gott vertrauen. Er würde die scheinbare Sicherheit der staatlichen Rente und der Anlage in Sparbriefen als das erkennen, was sie ist: Eine Flucht aus der Realität in eine unterkomplexe, einfache, ordentliche Scheinwelt oder schlicht eine falsche Vorstellung vom (Rentner-)Paradies. Auf Wagniskapital oder Private Equity würde er verzichten, denn als Mathematiker wären ihm diese Assetklassen zu intransparent, um seine Gewinnchancen akkurat einschätzen zu können.
Denn auch der Gedanke des „Spielerbankrotts“ geht auf Pascal zurück: Er erkannte, dass ein Spieler, der ein Spiel mit negativem Erwartungswert spielt, schließlich bankrott geht, unabhängig von seinem Wettsystem. Pascal ist diese Einsicht vermutlich beim Roulette gekommen: das dort beliebte System des Martingale hatte immer wieder zu Totalverlusten geführt, obwohl es scheinbar sicheren Gewinn versprach. Pascal wies zusammen mit Fermat nach, dass dieses System nicht funktionieren kann – eine Erkenntnis, die bis heute immer wieder von unglücklichen Spielern in der Praxis aufs Neue erworben wird. Das System geht nur eine Weile gut, die ersten 10- oder 20- oder 50-mal. Aus diesem Umstand leitet sich das auch an der Börse zu beobachtende Phänomen des Anfängerglücks her. Aber irgendwann setzt sich das Gesetz der großen Zahl durch und das Geld ist weg.
Die Vorstellung, es gebe ein „risikoloses Asset“, ist relativ neu, sie ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgekommen. Die Existenz eines solchen Assets wurde nicht aus der Beobachtung von Cash, kurzlaufenden Staatsanleihen, Gold, Rentenansprüchen etc. hergeleitet, sondern war eine notwendige Annahme in der mathematischen Theorie von Harry Markowitz (die er vollkommen ohne eigene praktische Erfahrung entwickelt hatte). Um der besseren Berechenbarkeit Willen wurde in dieser Theorie Risiko mit Volatilität gleichgesetzt (genau genommen vermeidet Markowitz in seiner Originalarbeit das Wort Risiko und redet ausschließlich von Volatilität) und seither hat es sich in den Köpfen festgesetzt: Die klimpernde Münze in meiner Tasche oder mein Rentenanspruch gegen den Staat sind auch morgen noch dieselben und daher kein Risiko. Was sich nicht ändert, kann auch keinen Wert verlieren.
Risiko - eine Frage der Zeit
In der Praxis ist diese Denkweise, wie die meisten Abstraktionen, interessant, aber limitiert. Erstens lässt sie das Element der Zeit außer Acht. Vergleicht man etwa Volatilität und Ertrag des amerikanischen Aktienmarktes und von amerikanischen Staatsanleihen mit 30-jähriger Laufzeit (wobei immer 30-jährige gekauft, nach einem Monat verkauft und durch neue 30-jährige ersetzt werden), so ergibt sich per Ende 2023 folgendes Bild: Über 30 Jahre wiesen die Aktien eine Volatilität (gemessen als Standardabweichung) von 15,3% aus und einen jährlichen Ertrag von 8,1% pro Jahr. Für die Staatsanleihen lag der Ertrag bei 5,3%, bei einer Volatilität von 14,1%. Für einen Anleger, der täglich auf die Börsenkurse schaut, mag das Aktieninvestment nervenaufreibender sein. Aber wer nur alle paar Monate oder Jahre oder Jahrzehnte seinen Vermögensstand betrachtet, wird das Argument, Aktien seien risikoreicher, nicht gelten lassen. Denn er sieht den Ertrag und nicht den Weg dorthin und stellt wahrscheinlich fest, dass das Risiko, signifikant weniger Vermögen gebildet zu haben, auch ein Risiko ist.
Ob der Markt ein Unternehmen höher oder niedriger bewertet als im Vormonat, ist für langfristige Investoren nichts als eine statistische Größe, die allenfalls Relevanz hat, wenn sie zu realen Konsequenzen beim Verkauf führte. So wie das Wetter, das ebenfalls schwankungsanfällig ist, erst interessant wird, wenn man sich aus dem Haus bewegt.
In der Praxis muss sich über schwankende Bewertungen nur den Kopf zerbrechen, wer verkaufen muss, etwa weil er Verpflichtungen hat, die den Assets gegenüberstehen. Das sieht man besonders gut in der letzten Phase eines Bärenmarktes, wenn die Vermögen schrumpfen, während die Schulden gleichbleiben und immer mehr Marktteilnehmer zum Verkauf gezwungen werden, um nicht (noch tiefer) unter Wasser zu geraten.
Was also lernen wir von Pascal und seiner rationalen Wette auf dem Weg ins Paradies? Wir sollten uns an der Börse möglichst viele Investitionen mit möglichst positivem Erwartungswert aussuchen und dann beherzt und mit langem Atem agieren. Kurz: der Pascal’sche Investor rechnet sich seine Chancen aus und bringt etwas Gottvertrauen mit.
Von Dr. Georg von Wallwitz, Geschäftsführender Gesellschafter und Lead Portfoliomanager, Eyb & Wallwitz