Seit etwa 400 Jahren, seitdem Blaise Pascal und Pierre de Fermat ernsthaft versuchten, ihre Gewinnchancen im Glücksspiel zu verstehen, fühlen sich Mathematiker herausgefordert, Ordnung und Struktur in scheinbar chaotischen Zuständen zu finden. Damit sind sie weit gekommen, und die jüngsten Entwicklungen in der Künstlichen Intelligenz sind nur der letzte Beweis für die großen Fortschritte seit der Entstehung der Wahrscheinlichkeitsrechnung an den Spieltischen von Paris und Toulouse.
Von großem Interesse sind bei Ökonomen, Spielern, Spekulanten und Sozialforschern die Grenzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung: Was lässt sich nicht, kaum oder nur mit viel Glück vorhersagen? Wovon lässt man, um die eigene Reputation beziehungsweise den Geldbeutel zu retten, am besten die Finger, weil es sich der Wissenschaft der Wahrscheinlichkeitsrechnung entzieht?
Das Problem im Herzen der Theorie komplexer Systeme (zu denen wirtschaftliche Prozesse zählen) lässt sich an einem Experiment veranschaulichen.1 Man stelle sich einen Sandhaufen vor, der sich bildet, indem Sandkörner auf eine flache Oberfläche fallen. Meistens setzt sich jedes neue Sandkorn in einer stabilen Position auf dem anwachsenden Kegel ab. Manchmal aber löst ein Korn – ein unscheinbares Sandkorn! – eine Lawine von unvorhersehbarer Größe aus, die die Seite des Sandhaufens hinunterstürzt. Misst man die Zeitintervalle zwischen den Lawinenstarts und die Größen der Lawinen, stellt sich heraus, dass diese beiden Zufallsvariablen in keine klassische Wahrscheinlichkeitsverteilung wie die Normal- oder Poisson-Verteilung passen. Stattdessen folgten ihre Verteilungen einem „Potenzgesetz“.2 Solche Ereignisse sind unvorhersehbar. Es gibt keine Struktur und kein Regelmaß in der Entstehung von Lawinen, sondern nur einen Zufallsprozess. Dieses Phänomen lässt sich in den verschiedensten Kontexten beobachten.
Wenn technische Prozesse sich der Vorhersagbarkeit entziehen, dann muss es nicht wundern, dass dies bei sozialen und wirtschaftlichen Interaktionen umso mehr gilt. Ein hoher Vernetzungsgrad in diesen komplexen Systemen bedeutet, dass eine Änderung an einer Stelle einen unvorhersehbaren Kaskadeneffekt an anderer Stelle auslösen kann. Diese Systeme sind anfällig für plötzliche Strukturveränderungen von unvorhersehbarem Beginn und Ausmaß, wobei die Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung oft nicht linear sind. Ein kleiner Auslöser kann enorme Auswirkungen haben (sogenannter Schmetterlingseffekt), während ein großer Eingriff manchmal kaum etwas bewirkt. Rückkopplungsschleifen können Effekte verstärken oder abschwächen, was Vorhersagen erschwert. Kurz und knapp: Menschliches Verhalten ist zu oft irrational, emotional und irgendwie unbegründet, als dass es sich in ein einfaches, schönes und robustes Modell zwängen ließe.
Was können wir aus alledem lernen? Wir können zwar feststellen, ob die Bedingungen für eine Lawine vorhanden sind, aber wir können nicht mit irgendeiner Sicherheit sagen, ob sie kommt, und wenn sie es tut, wie groß sie sein wird. Mit anderen Worten: Wir sind in der Lage, eine Lawine (und verwandte Phänomene) im Nachhinein zu erklären, aber wir können fast nichts über sie sagen, bevor sie geschehen. So sind auch ökonomische Vorhersagen ein Ding der Unmöglichkeit.
Als Fondsmanager wird man nicht für die Vorhersage von Ereignissen bezahlt, sondern dafür, sein Portfolio an die wirtschaftlichen Realitäten anzupassen. Crashpropheten liegen alle 10 Jahre richtig und verlieren dazwischen viel Geld. Ewigen Optimisten ergeht es oft wie dem Nichtschwimmer, der einen Fluss zu durchqueren versucht, von dem er weiß, dass er im Durchschnitt 70 cm tief ist. Bullen- und Bärenmärkte können länger dauern und zu extremeren Kursen führen, als es sich vernünftige Leute für möglich halten. Niemand kann auch nur eine Wahrscheinlichkeit dafür angeben, ob der DAX zum Jahresende höher oder niedriger steht. Wer es dennoch tut, ist ein Scharlatan.
Wer auf sein Geld achtet, sollte also die Gegenwart sehr ernst nehmen und auf seine Ahnungen über die Zukunft nicht viel geben – und mehr als Ahnungen sind nicht drin. Die wichtigsten Fragen lauten daher: Wie sieht das aktuelle wirtschaftliche Umfeld aus? Wie sind die Märkte bewertet? Wie ist die Stimmung? Aus der Antwort auf diese drei Fragen lässt sich ableiten, in welchen Wertpapieren man investiert sein sollte (wenn überhaupt).
Wie also steht es um die Wirtschaft? Kurz gesagt: mau. Vieles wird noch von den Effekten der Zollankündigungen überlagert (viele Unternehmen haben noch vor Inkrafttreten der Zölle Waren für die USA produziert und dorthin transportiert), aber in der US-Konjunktur sind deutliche Bremsspuren erkennbar. Der Technologiesektor läuft zwar hervorragend und die Unternehmen investieren viel Geld. Aber der für die breitere Konjunktur sehr wichtige Immobilienmarkt verzeichnet eine geringe Nachfrage, sowohl bei den Baugenehmigungen (auf dem niedrigsten Stand seit Corona) als auch bei den Renovierungen. Die Arbeitslosenzahlen sehen schlecht aus (weshalb die Leiterin der entsprechenden Statistikbehörde gefeuert wurde). Der private Konsum hat sich deutlich verlangsamt und das Verbrauchervertrauen hat sich im laufenden Jahr weiter eingetrübt. Die Inflationsrate bleibt in den USA zu hoch, um guten Gewissens die Zinsen senken zu können. In China läuft es ebenfalls nicht rund und in Europa warten alle darauf, dass der neuerliche Geldsegen aus Berlin der Konjunktur des Kontinents wieder eine Lokomotive beschert. Zu sehen ist davon bislang wenig.
Die Bewertung der Aktien und Unternehmensanleihen ist hoch. Die beigefügte Grafik bringt es auf den Punkt. Das Verhältnis von Kursen zu geschätzten Gewinnen ist für S&P 500, DAX und MSCI World historisch sehr hoch. Amerikanische Aktien sind höher bewertet als in 97% aller übrigen Perioden. Für den DAX sieht es mit 92% nicht viel besser aus.
Quelle: Morgan Stanley
Für den amerikanischen Aktienmarkt lässt sich die Situation auch anhand des von Robert Shiller über den Zyklus geglätteten Kurs-Gewinn-Verhältnisses veranschaulichen: Es liegt aktuell bei 37,9 und damit auf einem Niveau, das für die kommenden Jahre ausgesprochen schwache Renditen erwarten lässt. Wer heute teuer investiert, wird erfahrungsgemäß lange brauchen, bis er den Kaufpreis zurückverdient hat.
Die Bewertungen werden heute in den USA durch die beispiellosen Gewinne der großen Tech-Konzerne und die Aussicht auf enorme Effizienzgewinne durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz gerechtfertigt. Das Thema Zölle wird weitgehend ignoriert, mit dem Hinweis, dass die Zölle durch Ausnahmen („TACO“) und Vermeidungsstrategien verwässert werden. Es ist möglich, dass wir durch den Einsatz von KI einen echten Regimewechsel in den ökonomischen Bedingungen erleben werden. Diese Möglichkeit wird jedenfalls in den heutigen Kursen abgebildet. Demnach sind die Bewertungen gerechtfertigt, weil die Märkte nun von Unternehmen dominiert werden, die 1. schneller wachsen, 2. weniger zyklisch sind, 3. weniger Kapital benötigen und 4. eine weitgehend uneinnehmbare Marktstellung haben. Ob das wirklich so ist und so bleibt … ich kann aus den oben genannten Gründen keine Voraussage machen, bin aber dennoch vorsichtig zufriedener Aktionär von Microsoft, Alphabet et al.
Der dritte entscheidende Faktor ist die Stimmung, welche nicht zuletzt die Bewertungen treibt. Die Stimmung ist insgesamt positiv: Die Cash-Quote der Anleger ist niedrig, aber die Sentiment-Indikatoren sind nicht euphorisch. Die Risikoaufschläge bei Anleihen sind sehr niedrig, was auf einen gesunden Risikoappetit auch im Anleihemarkt schließen lässt. Kryptowährungen und Meme-Stocks (Aktien, die von Privatanlegern mehr zum Vergnügen als zum Geldverdienen gekauft werden) sind wieder sehr in Mode und markieren neue Höchststände. Allgemein ist die Stimmung verbreitet, dass es klug ist, jeden Rücksetzer im Markt zu kaufen („nothing ever changes“) – was vielleicht kein Wunder ist, liegt doch der letzte echte Bärenmarkt mittlerweile 16 Jahre zurück, sodass nur die älteren unter den heutigen Marktteilnehmern einen lang andauernden und tiefen Kursverfall erfahren haben. So regiert FOMO an den Märkten: Die Angst, etwas zu verpassen, ist größer als die Furcht vor Verlusten. Die kollektive Hoffnung auf bessere Kurse kann aber noch lange anhalten und zu noch höheren Bewertungen führen (Hoffnung und Furcht sind meistens soziale Phänomene: Selten trifft man auf einen Pessimisten unter vielen Optimisten und umgekehrt. Dieser Umstand verleiht den emotionalen Zuständen an der Börse eine gewisse Stabilität.)
Eine mäßige wirtschaftliche Entwicklung, hohe Bewertungen und eine recht positive Stimmung an der Börse legen Vorsicht nahe. Ich bin so weit davon entfernt, einen größeren Kursverfall zu prophezeien, wie ein Sandhaufenforscher eine Lawine. Aber die Bedingungen für eine Korrektur sind vorhanden. Kaufkurse sehen jedenfalls anders aus.
Von Georg von Wallwitz, Gründer und geschäftsführender Gesellschafter von Eyb & Wallwitz