Der September war kein guter Monat für die Zentralbanken. Der US-Regierung ist die Unabhängigkeit der Federal Reserve schon länger ein Dorn im Auge. Vor und hinter den Kulissen macht sie ihrem Unmut über das ihrer Meinung nach viel zu hohe Zinsniveau in den USA auf überdeutliche Weise Luft. Auf einzelne Mitglieder des Offenmarktausschusses, der die Zentralbankzinsen festlegt, wird auf hemdsärmelige Weise Druck ausgeübt, die Zinsen zu senken. Im übernächsten Jahr werden die Zinskosten im amerikanischen Staatshaushalt voraussichtlich erstmals die Marke von einer Billion Dollar übersteigen, was auch für amerikanische Verhältnisse viel Geld ist. Selbst ohne die Zinslast sähe der Haushalt nicht gut aus: Im laufenden Jahr stehen den Ausgaben von etwa 7 Billionen Dollar Einnahmen von etwa 5 Billionen gegenüber.
Auch in Europa stand der September unter keinem guten Stern für die Europäische Zentralbank (EZB). In Frankreich ist die Regierung von Ministerpräsident Bayrou kollabiert, weil sie das Parlament nicht dazu bringen konnte, einer moderaten Haushaltskonsolidierung zuzustimmen. Der französische Staat bleibt damit fiskalisch auf einer ähnlichen Route, wie sie Griechenland nach dem Beitritt zur Eurozone eingeschlagen hatte: großzügige Renten, hohe Subventionen und eine aufgeblähte Bürokratie lassen an der Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen zweifeln. Als die globale Finanzkrise zuschlug, wurde den Griechen die Rechnung präsentiert: Sie sahen sich gezwungen, demütigende Rettungspakete anzunehmen und für einige Jahre faktisch die Souveränität über den Staatshaushalt zu verlieren.
Nun ist Frankreich nicht Griechenland, und darin besteht das Problem für die EZB. Der Euro würde ohne Frankreich auseinanderbrechen. Also wird die Zentralbank, wenn Paris seine Kreditwürdigkeit verliert und kein Geld mehr an den Kapitalmärkten aufnehmen kann, kaum eine andere Wahl haben, als einzuspringen und die laufende Kreditaufnahme mit Worten, und wenn es darauf ankommt, auch mit Taten zu unterstützen. Anders als im Fall von Griechenland kann die EZB nicht glaubhaft damit drohen, den Austritt Frankreichs aus der Eurozone notfalls hinzunehmen. Und das politische Gewicht und Selbstverständnis des Élysée-Palasts sprechen gegen die Wirkung von politischen Sparvorgaben der EU.
Schon 2014 kommentierte der Economist: „Die großen Länder haben die zwei Jahre, die durch Mario Draghis ‚whatever it takes‘-Versprechen gewonnen wurden, vergeudet… Die Eurokrise ist nicht verschwunden, sie lauert nur hinter dem Horizont.“ Der Horizont rückt nun näher. Ähnlich wie in den USA schrumpft auch in Europa der Handlungsspielraum der Zentralbank. Unter dem Druck der Politik sind es nicht mehr nur die wirtschaftlichen Umstände, die den Zentralbankzins diktieren, sondern zunehmend auch die Erfordernisse der Staatshaushalte. Diesen Zustand nennen Ökonomen „Fiskalische Dominanz“.
Die Märkte reagieren bislang insgesamt gelassen auf den drohenden Kontrollverlust der Zentralbanken. Eine aus dem Finanzministerium gesteuerte Zentralbank muss nicht zu Inflation und Weimarer Verhältnissen führen. Es kommt dann auf den wirtschaftlichen Sachverstand der Regierenden an, der groß sein kann (wie in China) oder zweifelhaft (wie in der Türkei). Und weder die USA noch Frankreich sind mit Griechenland wirtschaftlich und politisch vergleichbar. Es handelt sich um reiche Länder mit großer ökonomischer Substanz und politischem Gewicht und – gezwungenermaßen – unbedingter Unterstützung der Zentralbanken.
Aber mit dieser Ruhe kann es auch schnell vorbei sein, wenn mal wieder ein Herbst der Reformen ereignislos vorübergezogen ist. Denn Krisen der Staatsfinanzen laufen zunächst langsam und dann sehr schnell ab. Sie sind in der Regel nicht durch Zahlungsunfähigkeit, sondern durch Zahlungsunwilligkeit verursacht, wenn ein Souverän sich nicht zur Bedienung seiner Schulden zwingen lassen will. Die Kreditgeber verlieren das Vertrauen, wenn nicht einmal kleinere Ausgabenkürzungen oder Deregulierungen politisch durchsetzbar sind. Wenn es also der Regierung Trump nicht gelingt, die Haushaltslöcher mit Zolleinnahmen zu stopfen (was zweifelhaft ist) und sich das Parlament in Frankreich nicht zu der Einsicht in die Notwendigkeit von Reformen durchringt, dann werden die Zentralbanken noch stärker von Akteuren zu Schachfiguren.
Ich will hier keine Krise an die Wand malen (Prophetie ist ein undankbares Geschäft), aber die Anzeichen von Unruhe an den Märkten sind unübersehbar: Die Anleihen der französischen Versicherungsgesellschaft AXA und Griechenlands sind niedriger verzinst (und gelten damit als weniger risikoreich) als französische Staatsanleihen. Die Kurse amerikanischer Staatsanleihen tendieren heute dazu, sich im Krisenfall zu verhalten, wie man es sonst nur von Anleihen aus Schwellenländern kennt. Microsoft zahlt weniger Zinsen als der amerikanische Staat. Die Liste der “sicheren” Investitionsmöglichkeiten wird immer kürzer.
Darüber sollten sich alle bewusst sein, die ihr Geld in Sparbücher und Anleihen angelegt haben. Das Geld solcher Zentralbanken taugt dann nicht mehr als Wertaufbewahrungsmittel, vor allem nicht für ausländische Anleger. Und eine „Erdoganisierung” der Notenbanken wäre am Ende des Tages ein Verlustgeschäft, nicht nur für die Wirtschaft, sondern übrigens auch und vor allem für den jeweiligen Souverän, dem Reformen aktuell scheinbar nicht zuzumuten sind.
Von Georg von Wallwitz, Gründer und geschäftsführender Gesellschafter von Eyb & Wallwitz