Atomenergie als zukunftsfähige Energiequelle?
Die Bewertung der Atomenergie als zukunftsfähige Energiequelle stellt sich länderspezifisch sehr unterschiedlich dar. In Ländern mit hohem Anteil an Stromproduktion aus Nuklearkraft wie Frankreich oder Tschechien ist die Zustimmung zur friedlichen Nutzung der Atomkraft oft hoch. In Ländern ohne Stromproduktion aus Nuklearenergie wie Österreich und Italien überwiegt hingegen ganz deutlich die Ablehnung.
Unfälle in Atomkraftwerken können allerdings zu politischen Neuorientierungen und Meinungsumschwüngen führen. Nach der Katastrophe von Fukushima haben sich Deutschland und die Schweiz zu einem Ausstieg aus der Atomtechnologie bekannt, diese Ziele vom zeitlichen Aspekt her zuletzt aber wieder relativiert. Das größte Problem in der wirtschaftlichen Beurteilung der Nuklearenergie ist die Berechnung und Berücksichtigung der hohen externen Kosten oder Externalitäten.
Der Begriff Atomenergie, Kernenergie oder Nuklearenergie steht für Energie, die durch Kernspaltung freigesetzt wird. Derzeit wird nur die Kernspaltung in Atomkraftwerken genutzt. Das erste Kernkraftwerk mit einer industriell verwertbaren Energieleistung wurde im Jahr 1954 in der Nähe von Moskau in Betrieb genommen, 1955 folgte dann das englische Sellafield. In Deutschland wird seit 1961 (Kernkraftwerk Kahl) Atomenergie in das Stromnetz eingespeist. Erst allmählich setzten sich dabei die von den Amerikanern von Beginn an favorisierten Leichtwasser- gegenüber den Schwerwasserreaktoren durch, die von der Forschung bevorzugt worden waren, da aber vorwiegend für den militärischen Bereich. Bei Leichtwasserreaktoren wird normales Grundwasser als Kühlmittel verwendet. Bei der Schwerwassertechnologie wird der Wasserstoff im Wasser durch höhermassige Stoffe (z. B. Deuterium) ersetzt und man erspart sich damit einen großen Teil der Urananreicherung. Dieser Vorteil wird jedoch durch den extrem hohen Wasserverbrauch relativiert.
Nach der Ölkrise 1973 entstanden vermehrt Kernkraftwerke, um die drohende Energieknappheit abzuwenden. Zugleich entwickelte sich die Anti-Atomkraft-Bewegung, die 1979 durch den Reaktorunfall im US-amerikanischen Harrisburg einen gewaltigen Aufschwung erhielt.
Hoffnungsträger Kernfusion
Die Kernfusionstechnologie befindet sich noch im Forschungsstadium, wobei jedoch gerade in jüngster Zeit Durchbrüche in der Forschung gemeldet worden sind. Die vielversprechendsten Ergebnisse wurden von einem Team von Wissenschaftler:innen in der staatlichen Forschungseinrichtung National Ignition Facility (NIF) am Lawrence Livermore National Laboratory in Kalifornien erzielt, das vorwiegend für militärische Zwecke genutzt wird.
Die Forscher:innen in Kalifornien verwendeten für ihre Experimente die weltstärkste Laseranlage, um winzige Mengen der Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium bei einer Temperatur von etwa 60 Millionen Grad Celsius in Plasma umzuwandeln. Die Wasserstoffisotope verschmelzen zu Helium und verlieren dabei einen kleinen Teil ihrer Masse in Form von Strahlung. Medienberichten zufolge wurden dabei 20 % mehr Energie gewonnen als eingesetzt. Kernfusion gilt als Hoffnungsträger für saubere Energie der Zukunft. So lässt sich damit theoretisch umweltfreundlich Strom in nahezu unbeschränktem Ausmaß erzeugen.
Dilemma Endlagerung
In bestehenden Atomkraftwerken wird Atomenergie auf Basis von kontrollierten Kettenreaktionen von Kernspaltungen in Kernreaktoren in elektrischen Strom umgewandelt. Die Brennelemente stellen den wesentlichsten Teil des Reaktorkerns dar. Sie enthalten den Kernbrennstoff, der die Kernspaltung auslöst.
Je nach Reaktortyp weisen die Brennelemente unterschiedliche Formen und Zusammensetzungen auf, fast immer wird ein Urandioxid-Brennelement verwendet. Beim Betrieb aller Typen von Kernkraftwerken fallen abgebrannte Brennelemente an, die theoretisch wiederaufbereitet werden können. Die alternative Entsorgungsmethode ist die direkte Endlagerung.
Bei der Kernspaltung entstehen radioaktive Isotope. Kurzlebige Isotope zerfallen in Zwischenlagern oder Abklingbecken. Atommüll mit langlebigen Isotopen wird so lange gelagert, bis die Wärmeentwicklung derart weit abgeklungen ist, dass nach einigen Jahrzehnten eine Endlagerung möglich wird.
Die Strahlung von Teilen des radioaktiven Abfalls aus einem Kernkraftwerk ist erst nach tausenden bis hunderttausenden von Jahren weitgehend abgeklungen. Außerdem sind einige im Atommüll enthaltene Elemente auch sehr giftig. Der radioaktive Abfall wird daher dauerhaft so gelagert, dass er von der Biosphäre ferngehalten wird. Für diesen Zweck anzulegende Lager bezeichnet man als Endlager. Derzeit gibt es weltweit noch kein einziges Endlager für hoch radioaktiven Abfall.
Das am weitesten fortgeschrittene Projekt befindet sich auf der finnischen Halbinsel Olkiluoto. (Lesen Sie auch unseren Beitrag über den finnischen Konzern "Fortum".) Dabei soll der hoch radioaktive Abfall in einem Stollen im Granitgestein in mehr als 400 Meter Tiefe in Kupferbehältern eingelagert werden, die wiederum vom Mineral Bentonit umhüllt sind. Dadurch entsteht ein Schutzsystem aus mehreren Stufen. Bei einem theoretischen Undichtwerden einer der künstlichen Barrieren würden dann die geologischen Formationen als Barrieren greifen. Doch die Frage ist, ob diese Barrieren beispielsweise einer neuen Eiszeit standhalten können. Bislang ist es der Menschheit noch nie gelungen, Bauwerke für die Ewigkeit zu schaffen.
Anteil am Energiemix
Der Anteil der Kernkraft an der weltweiten Stromerzeugung liegt nach Berechnungen der International Energy Agency aktuell bei 10 %. Per Jänner 2023 waren 440 Reaktorblöcke mit einer Gesamtleistung von 415 GW in 31 Ländern in Betrieb. Aktuell sind laut World Nuclear Association (www.world-nuclear.org) 54 Reaktoren (mit einer Gesamtleistung von 59 GW) weltweit im Bau, der Großteil davon in China, 109 Reaktoren befinden sich im Planungsstadium. Nach statistischen Daten der EU für Europa aus dem Jahr 2019 lag der Anteil der Atomkraft am nationalen Energie-Mix in Frankreich bei 70,58 %, in Schweden bei 33,97 %, in der Slowakei bei 53,86 % und in Deutschland bei 12,36 %.
Pro und Contra von Atomenergie
Beim Betrieb von Atomkraftwerken wird kein klimaschädliches Kohlendioxid emittiert, auch die Emission von klassischen Luftschadstoffen ist gering. Daher ergibt sich im Vergleich mit fossilen Brennstoffen wie Kohle und Öl eine gute Ökobilanz, aber nur sofern Störfälle und Unfälle während des Betriebs sowie unvorhergesehene Ereignisse bei der Endlagerung nicht berücksichtigt werden.
Durch die stetige und stabile Energieerzeugung ist die Atomkraft unabhängig von Sonne und Wind und wird daher als stabiler Bestandteil einer Grundlastversorgung gesehen. Die im Zusammenhang mit der zivilen Kernenergie stehenden Technologien sind oft auch relevant für die Entwicklung und Herstellung von Atomwaffen. Daher besteht die Möglichkeit, dass zivile Kernenergieprogramme als Deckmantel für ein geheimes militärisches Kernwaffenprogramm genutzt werden.
An der Spitze der Argumente gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie steht die Unfallgefahr, die nach den Unfällen in Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 verdeutlicht wurde. Die Abkürzung GAU steht dabei für „Größter anzunehmender Unfall“, ein Super-GAU ist ein über die GAU-Definition hinausgehender Unfall. Mit der zivilen Nutzung der Kernenergie verbundene Umweltbelastungen ergeben sich aus dem Uranbergbau und dem nicht immer reibungslos verlaufenden Normalbetrieb der Atomkraftwerke.
Weitere Gegenargumente sind die ungelösten Fragen rund um das Thema Endlagerung und die mögliche Erzeugung von Kernwaffen (siehe auch Strenge Kriterien für Nuklearwaffen). Zudem existiert die Gefahr von Terroranschlägen auf Atomanlagen. Diese Risiken und die damit verbundenen Schäden sind aufgrund der zu erwartenden enormen Schadenssummen (geschätzte sechs Billionen Euro als Maximalschaden) nicht versicherbar. Im Jahr 2011 errechneten Finanzmathematiker den Preis einer Haftpflichtversicherung für ein herkömmliches Atomkraftwerk mit 72 Milliarden Euro über die gesamte Laufzeit. Daher würde eine komplette Haftpflichtversicherung den aktuellen Strompreis in Deutschland ungefähr verzwanzigfachen.
Die Befürworter von Atomkraft argumentieren mit deren Beitrag zur Netzstabilität und der hohen Versorgungssicherheit, beides vor allem im Vergleich mit den Technologien bei den erneuerbaren Energien. Außerdem wird mit der höheren Nachfrage und dem tendenziell steigenden Strombedarf bei gleichzeitigem Rückgang fossiler Ressourcen wie Erdöl und Erdgas argumentiert, Atomkraft wird als „Brückentechnologie“ gesehen. Schließlich wird die Unabhängigkeit von Erdöl- und Erdgasimporten als Vorteil genannt. Dieses Argument hat durch den Boom bei Schiefergas und Schieferöl vor allem aus amerikanischer Perspektive etwas an Schlagkraft verloren.
Nicht in die Kostenberechnung von Atomstrom einbezogen sind sogenannte externe Kosten – die potenziellen gesellschaftlichen Schäden und Umweltschäden durch einen nuklearen Unfall –, die Schäden durch den Uranabbau, die Kosten der Sicherung – wie der langjährige Schutz stillgelegter nuklearer Kernkraftwerke und die Kosten für Transporte in Wiederaufbereitungsanlagen – sowie Belastungen durch die Zwischenlagerung und Endlagerung. Aber nicht nur externe Kosten sprechen gegen Neubauten von Kernkraftanlagen. Moderne Kernkraftwerke sind auch im Betrieb teuer. Ein wirtschaftlicher Betrieb der neuen Reaktoren in Hinkley Point in Großbritannien konnte nur durch staatliche Subventionen in Form eines garantierten Stromabnahmepreises sichergestellt werden.
Uran – alles andere als sauber
Aktuell werden auf globaler Ebene jährlich rund 65.000 Tonnen Uran gefördert. Der Uranabbau verursacht massive Umweltzerstörungen und Umweltschäden. Für die Bergleute im konventionellen Abbau ist die Gesundheitsgefahr am größten. Da Uranerz nur einen kleinen Anteil puren Urans enthält, ist das Erz außerhalb des Körpers relativ ungefährlich. Durch die mechanische Herauslösung von Uranerz aus dem Gestein sind Bergarbeiter jedoch sowohl Uran-Feinstäuben als auch dem Folgeprodukt Radon, einem strahlenden Edelgas, in der Atemluft ausgesetzt. Die Inhalation von Uranstäuben und Radon kann Krebs – in erster Linie Lungenkrebs – hervorrufen. Schon in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde belegt, dass Bronchial- und Lungenkrebs bei Grubenarbeitern auf die Kontamination mit Radon zurückzuführen sind. In Regionen, in denen Uranabbau stattfindet, besteht zusätzlich ein erhöhtes Gesundheitsrisiko durch entweichende Radioaktivität.
Ein weiteres Problem im Uranabbau ist auch der enorme Wasserbedarf. So wurden nach einer Schätzung von Greenpeace allein in Niger in den letzten 40 Jahren 270 Milliarden Liter Wasser durch Uranbergbau verbraucht. Dieses Wasser wurde kontaminiert wieder in Flüsse und Seen abgegeben. Neben den direkten gesundheitlichen Folgen aus der Verseuchung des Wassers schädigt der große Wasserverbrauch die Abbauregionen auch ökologisch und wirtschaftlich – und damit die Menschen gesundheitlich. Denn die Entnahme des Wassers führt zur Absenkung des Grundwasserspiegels und damit zur Verwüstung; Pflanzen und Tiere sterben, die traditionelle Lebensgrundlage der Bevölkerung wird ausgelöscht.
Aufgrund des umfangreichen Abbaus der letzten Jahrzehnte sind Erzvorkommen mit hohem Urananteil weitgehend erschöpft. Stattdessen werden nun niedriger konzentrierte Erze aufbereitet, wobei in zunehmendem Ausmaß CO2-Emissionen entstehen.
Ein Argument gegen Atomkraft sind die weltweiten Uranreserven. Auf Basis der aktuellen Förderung reichen die Reserven für weitere 20 Jahre. Weitaus der größte Anteil der derzeit wirtschaftlich abbaubaren Reserven lagert in Kasachstan, gefolgt von Kanada, Südafrika, Brasilien und China.
Nuklear-Policy
Für die Raiffeisen KAG (Raiffeisen Capital Management) zählt Atomkraft nicht zu Energieformen, die mit Investitionen unterstützt werden sollten. Jeder Euro, der in Atomkraft investiert wird, könnte zukunftsträchtiger und nachhaltiger in erneuerbare Energien investiert werden.
Raiffeisen KAG ESG-Betrachtung
E (enviroment): Von der Umweltseite her sind eine potenzielle radioaktive Verstrahlung durch Uranbergbau oder radioaktive Unfälle sowie Umweltrisiken durch Zwischen- und Endlager wesentliche Themen.
S (social): Der Uranabbau sowie Störfälle können gesundheitliche Schäden hervorrufen.
G (governance): Das Thema der Behandlung oder Miteinberechnung von Externalitäten ist nach wie vor ungelöst, ein latentes Risiko für den Betrieb stellt ein Atomausstiegs-Beschluss durch den jeweiligen Sitzstaat vor allem nach Atomunfällen dar.