Proteste in der Türkei
„Es gibt einige verblüffende Gemeinsamkeiten zwischen den aktuellen Protesten in der Türkei und den jüngsten Ereignissen in Russland“, sagt Marcus Svedberg, Chefvolkswirt beim schwedischen Vermögensverwalter East Capital. Es seien zwar zwei total unterschiedliche Schwellenländer, aber es gebe gemeinsame Nenner sowohl unter den Demonstranten als auch in der Regierung und insbesondere deren Staatschefs.
Wirtschaftlicher Hintergrund
„Auch wenn die Proteste nicht wirtschaftlich motiviert sind, liefern die wirtschaftlichen Entwicklungen in beiden Ländern einige Erklärungen dafür warum sie gerade jetzt stattfinden“, sagt Svedberg.
Unter Wissenschaftlern gebe es eine breite Unterstützung für die These, dass die Entstehung einer Mittelschicht positiv mit politischem Aktivismus korreliert. Beide Länder steigerten in der letzten Dekade ihr BIP vom niedrigen einstelligen in einen zweistelligen Tausenderbereich. Es sei im weiten Sinne die Mittelschicht, die auf die Straßen in der Türkei und Russland zieht. Die Masse scheint jung, urban und gebildet zu sein. Dennoch scheint es aber eher eine zivilgesellschaftliche als eine politische Bewegung zu sein.
Wohlstand aktiviert Bürger
„Einige der Gründe für die Entstehung von Revolutionen sind Verzweiflung, Hunger und Misswirtschaft. Doch weder in der Türkei noch in Russland ist dies der Fall“, sagt Svedberg. In beiden Ländern seien die Proteste aus Wohlstand entstanden, geführt von einer Mittelschicht, die stark von dem wirtschaftlichen Erfolg der jeweiligen Länder profitiert habe.
Die Auslöser der Proteste
Auch die Auslöser der Proteste seien in beiden Ländern unheimlich ähnlich. „Die offenkundigsten Auslöser sind in der Regel Wahlen. In beiden Länder waren es jedoch umweltspezifische Anliegen, wie ein Wald in Moskau und ein Park in Istanbul“, sagt der Wirtschaftsexperte. Die Politik in beiden Länder unterscheide sich sehr stark, aber es gebe eine wichtige Gemeinsamkeit: Sowohl Putin als auch Erdogan seien schon seit über zehn Jahren an der Macht und planen dies auch in absehbarer Zeit nicht zu ändern. Beide erhielten Anerkennung für die Stabilisierung ihres Landes nach den chaotischen neunziger Jahren und beide werden jetzt dafür kritisiert zu autoritär zu sein.
Kein Machtwechsel erwartet
Es sei voreilig zu glauben, die Straßenproteste würden zu einem unmittelbaren Machtwechsel führen. „Dennoch ist es eine gute Sache, dass die Mittelschicht politisch aktiver wird, auch wenn es kurzfristig zu Unsicherheiten und Volatilität an den Finanzmärkten führt“, sagt Svedberg. Nach dem starken Wirtschaftswachstum der beiden Länder in den letzten zehn Jahren, sei es jetzt wichtig auch politisch den nächsten Schritt zu wagen. Als Putin und Erdogan die Macht übernommen haben, war ein starker staatlicher Einfluss wichtig für die Stabilisierung der Wirtschaft. „Wenn beide auf ihrem Weg nicht stecken bleiben wollen, dann müssen sie den Staat etwas zurücknehmen und ihre Bevölkerung und Wirtschaft fördern anstatt zu dominieren“, so Svedberg.
Modell für China und Asien?
Die Entwicklungen in der Türkei und Russland sind zwar nicht direkt mit der innenpolitischen Situation in einigen asiatischen Ländern vergleichbar. Die Reaktionen der politischen Führung könnten jedoch auch Auswirkungen auf die weitere Entwicklung in China und anderen Ländern haben.
Nicht zuletzt wird sich die Mittelschicht in Asien von derzeit 500 Millionen Menschen bis zum Jahr 2020 auf 1,75 Mrd. Menschen vervielfachen (siehe auch Artikel vom 22. 5. 2013 - Vortrag von Prof. Kishore Mahbubani).