e-fundresearch.com: Herr Kuhn, am britischen Kapitalmarkt kam es Ende September zu historischen Turbulenzen. Das Pfund fiel gegenüber dem US-Dollar auf den tiefsten Stand seit Beginn der Datenhistorie. Was war passiert?
Florian Kuhn: Britische Pensionsfonds waren aufgrund des rasanten Anstiegs der Leitzinsen, der sich seit Mitte September nochmals beschleunigt hatte, in Liquiditätsschwierigkeiten geraten. Einige standen zeitweise kurz vor der Insolvenz.
e-fundresearch.com: Die britische Notenbank (Bank of England) hatte doch zu diesem Zeitpunkt mit Leitzinserhöhungen bereits begonnen und weitere Anhebungen angekündigt. Wie konnte das Finanzsystem derart in Bedrängnis geraten?
Florian Kuhn: Die gefährliche Dynamik erhielt die Situation durch die nicht gegenfinanzierte Steuersenkungs-Agenda der Truss-Regierung. Diese wurde vom Markt aufgrund der steigenden Staatsverschuldung sehr kritisch gesehen. Die Renditen britischer Staatsanleihen (Gilts) kletterten rapide an. Viele institutionelle Anleger warfen zur Liquiditätsbeschaffung Staatsanleihen auf den Markt. Die Renditen 30-jähriger Gilts schossen durch diesen Cocktail innerhalb weniger Tage auf über 5% in die Höhe. Im gleichen Zeitraum gaben die Kurse um knapp 30% nach.
e-fundresearch.com: Warum waren diese Kursverluste und das Ansteigen der Gilt-Renditen für Pensionsfonds so gefährlich?
Florian Kuhn: Gefährlich war vor allem das Tempo, mit dem dies geschah. Hintergrund sind die sogenannten Liability-Driven Investing (LDI)-Strategien britischer Pensionsfonds, bei denen auch Derivate wie Zinsswaps eingesetzt werden.
e-fundresearch.com: Können Sie für unsere Leser die Funktion der Zinsswaps in diesem Zusammenhang ein wenig genauer erläutern?
Florian Kuhn: Mit Zinsswaps versuchen sich die Pensionsfonds gegen langfristige Zinsänderungsrisiken abzusichern. Als Referenzzins dienen dabei die Renditen langlaufender Staatsanleihen. Vereinfacht gesprochen sind die Geschäfte so konzipiert, dass der Fonds bei steigenden Zinsen Zahlungen an die Gegenpartei leisten muss und vice versa. In einem normalen Marktumfeld laufen diese Prozesse reibungslos. Wenn die Zinsen am Anleihemarkt allerdings zu schnell steigen, birgt es die Gefahr einer Kettenreaktion.
e-fundresearch.com: Wie sah die Kettenreaktion in diesem Fall aus?
Florian Kuhn: Durch die Verluste aus den Zinsswaps waren die Pensionsfonds in großem Ausmaß gezwungen Margin-Calls zu bedienen. Waren die Cash-Bestände aufgezehrt, griffen die Fonds auf die liquidesten Anlagen zurück: meist Staatsanleihen. Sofern sie das nicht schnell genug konnten, verwerteten die Swap-Kontrahenten die hinterlegten Sicherheiten: wiederum Staatsanleihen. Und genau hier lag das Problem. Der Abverkauf von Staatsanleihen senkte deren Preise immer weiter (Sicherheiten werden weniger wert) und steigerte die Rendite (Swap-Verluste vergrößern sich).
e-fundresearch.com: Die Bank of England entschloss sich am 28. September zu intervenieren und den Anleihemarkt mit Notkäufen zu stützen. War das Eingreifen alternativlos?
Florian Kuhn: In meinen Augen: ja. Die BoE war die einzige handlungsfähige Institution, um den Markt in der Kürze der Zeit mit ausreichend Liquidität zu stützen. Durch den unlimitierten Ankauf langlaufender Anleihen sorgte die Notenbank für den größten Intraday-Renditerückgang der britischen Geschichte. Die 30-jährigen Zinsen sanken im Tagesverlauf um knapp 1,2%. Das 65 Milliarden Pfund schwere Notfallprogramm hatte die Funktionalität des Rentenmarktes wieder hergestellt.
e-fundresearch.com: Was machte die Situation aus Ihrer Sicht so brenzlig?
Florian Kuhn: Die Gefahr ging hier meines Erachtens von einer Art „automatisiertem Herdentrieb“ aus. Alle LDI-Strategien sichern sich auf eine ähnliche Art und Weise ab und sind gezwungen, in dieser Lage am Bondmarkt gleichgerichtet zu handeln. Mit im schlimmsten Fall kaskadenhaften Effekten sowie überschwappenden Auswirkungen auf andere Assetklassen.
e-fundresearch.com: Auch in Deutschland wird ein beachtliches Vermögen von Altersvorsorgeeinrichtungen verwaltet. Ist eine solche Situation auch hierzulande denkbar?
Florian Kuhn: Auf diese Art nicht. Der Pfad des Renditeanstiegs ist bei Staatsanleihen in Deutschland deutlich flacher. Zudem ist die deutsche Staatsverschuldung mit einer Quote von 70% in Relation zum BIP geringer als in Großbritannien mit 95%. Ein wichtiger Punkt ist zudem, das LDI-Strategien und Zinsswaps hierzulande deutlich weniger zum Einsatz kommen. Gerade die kleinen und mittelgroßen Pensionskassen betreiben ihr Asset Liability-Management meist über ein „physisches Matchen“ der jeweiligen Zahlungsströme, also das Angleichen der Fälligkeitsstruktur der Investitionen an den Zeitpunkt der Auszahlungen. Allein das sollte derartigen Marktverwerfungen wie in Großbritannien vorbeugen.
e-fundresearch.com: Welche Lehren, vor allem mit Blick auf die Finanzmarktstabilität, lassen sich aus dem Fall ziehen?
Florian Kuhn: Zum einem haben wir gesehen, dass der Ausstieg aus der ultraexpansiven Geldpolitik mehr Nebenwirkungen mit sich bringen kann, als ursprünglich von einigen Zentralbanken angenommen. Auch wenn die britische Aufsichtsbehörde stets betont, dass der Pensionsmarkt weit von einem Crash entfernt war: Ohne das Eingreifen der BoE hätten viele Fonds ihre Assets zu unvorteilhaften Preisen veräußern und Sparer herbe Verluste hinnehmen müssen. Mittlerweile sorgen die Rücknahme der Steuersenkungspläne in England und die Entscheidung für den Finanzfachmann Rishi Sunak für Entspannung und etwas mehr Vertrauen am Finanzmarkt.
e-fundresearch.com: Danke für das Gespräch, Herr Kuhn.
Florian Kuhn ist Senior-Portfoliomanager der Investmentboutique QC Partners.
Der auf Anleihe- und Volatilitätsstrategien spezialisierte Volkswirt (Schwerpunkte Makroökonomik und Finanzwirtschaft) und CFA-Charterholder betreut Publikums- und Spezialfonds für institutionelle Anleger.