e-fundresearch.com: Herr Günther, Sie haben sich auf die Fahnen geschrieben, die Bedeutung des Themas Diversifikation für institutionelle Portfolios mehr in den Fokus zu rücken. Was steckt dahinter?
Michael Günther: Grundsätzlich erleben wir angesichts wirtschaftspolitischer Herausforderungen und globaler Zeitenwenden ein Umfeld, in dem viele Investoren ihre Aktienquote sowie Beimischungen anderer Anlageklassen überprüfen. Die Kernfrage, die uns begegnet: Können Renditen ähnlich hoch wie in den vergangenen zwei Jahren ausfallen (bei einer DAX-Performance von fast 20% und über 26% im S&P 500 im Schnitt der letzten beiden Jahre), wenn Rückschlagrisiken und Volatilität aktiver begrenzt werden müssen?
e-fundresearch.com: Diese Frage stellt sich ja in der Tat aufgrund vieler Umfeldbedingungen: Unberechenbarkeit aus den USA, Inflation, Staatsverschuldung, Zinspolitik ...
Bevor wir darauf im Einzelnen eingehen: Warum glauben Sie, dass viele Portfolios, wie Sie sagen, „einem Irrtum“ beim Thema Diversifikation aufgesessen sind?
Michael Günther: Diversifikation wird von vielen Anlagestrategien reklamiert, führt in der Praxis aber nicht selten zu Ernüchterung. Wenn ein Allokator in den Vorjahren 20% Rendite im MSCI gemacht hat, dann sucht er womöglich nach weiteren Top-Aktienfonds zur Aufteilung seiner Renditequellen. Das Problem: Er wird damit in den meisten Fällen die Diversifikation seines Portfolios kaum erhöhen.
e-fundresearch.com: Das heißt, er muss eine ähnliche Volatilität in Kauf nehmen?
Michael Günther: Er wird in den meisten Fällen im Gleichlauf mit Bullen- oder Bärenmärkten nach oben oder unten gezogen. Das ist selbstverständlich kein Credo, nicht weitere Aktienschwerpunkte (Themen, Branchen, Regionen), aktiv oder passiv, zu erschließen. Wichtig ist eben immer die Kenntnis: Wie hoch ist damit meine Abhängigkeit vom globalen Aktienmarkt?
e-fundresearch.com: Lässt sich dies anhand von Korrelationskoeffizienten messen?
Michael Günther: Man kann sagen, dass es für eine genuine Dekorrelation einen Wert zum Aktienmarkt von 0,3 oder weniger braucht. Diese Unabhängigkeit ist zwingendes Kriterium. Damit ist es jedoch noch nicht getan. Inwieweit diese Beimischungen eigene Erträge und Eigenschaften für eine gleichmäßigere Wertentwicklung, also mithin für ein optimales Rendite-Risiko-Profil, mitbringen, ist entscheidend.
e-fundresearch.com: Wie schätzen Sie das aktuelle Marktumfeld unter Diversifikationsgesichtspunkten ein?
Michael Günther: Zwei Aspekte sind aus meiner Sicht ausschlaggebend: 1. Wie entwickelt sich die Korrelation zwischen Aktien und Anleihen? Und 2. Behalten Bunds und Treasuries ihre „Safe Haven“-Funktion? Für den ersten Punkt lässt sich sagen, dass wir in Deutschland und global bei hartnäckiger Inflation absehbar nicht mit einer negativen Korrelation rechnen. Diese war übrigens in den Jahren 2000 bis 2020 historisch eher eine Ausnahme. Im Zeitraum seit Januar 2022 messen wir dagegen eine recht hohe positive Korrelation von 0,42 (10jährige Bundesanleihen vs. DAX 40) beziehungsweise von 0,48 (10jährige US-Treasuries vs. S&P 500).
e-fundresearch.com: Und die Rolle von Anleihen als sicherer Hafen?
Michael Günther: Während sich die meisten Marktteilnehmer in den USA auf zwei Zinsschritte bis 2026 einrichten, sehen wir in Europa Druck aus verschiedenen Richtungen auf den Rentenmarkt. Nicht nur der Spielraum für Zinssenkungen, den die Notenbanken haben, dürfte relevant sein, sondern auch die Reaktion der Finanzmärkte auf das Investitionsprogramm der künftigen deutschen Regierung. Wenn der Staat mehr Bundesanleihen ausgibt, steigt das Angebot, was dazu führt, dass die Preise der Anleihen sinken. Die Renditen zehnjähriger Bunds haben nach Ankündigung des Finanzpakets bereits zugelegt.
e-fundresearch.com: Welche Einflüsse kommen derzeit vom Aktienmarkt selbst?
Michael Günther: Die Volatilitätsindizes, die die erwarteten Kursschwankungen messen, zeigen derzeit noch keine ausgeprägte Nervosität gemessen am VIX (aktuell: 18,9/historischer Durchschnitt 18,3), VDAXX (21,1/20,3) und VSTOXX (19,4/20,2). Wir registrieren in Investorengesprächen jedoch, dass die Fähigkeit, schnell reagieren und effektiv streuen zu können, höher priorisiert wird. Zweitens sind die von Banken wie Goldman Sachs veröffentlichten, langjährigen Renditeprognosen für den S&P 500 mit circa drei Prozent eher bescheiden. In den USA hatten wir zuletzt aus einer gewissen Unberechenbarkeit heraus Verlaufstiefs. Nach einer langen Phase der „Supremacy“ von US-Titeln mit hohen Bewertungsdifferenzen gegenüber Europa erleben wir aktuell zumindest rhetorisch einen gewissen Shift.
e-fundresearch.com: Es geht um die Aufteilung von Risiken und Renditequellen. Sie setzen in Ihrer Strategie künstliche Intelligenz (KI) zur Dekorrelation ein. Inwieweit qualifiziert sich diese produktiv für diese Aufgabe?
Michael Günther: Das Diversifikationspotenzial nur mit Long-Positionen in Aktien und Anleihen halten wir für beschränkt. KI erlaubt es uns, mit einem Vielfachen an Daten und globalen Einflussfaktoren aktuelle Marktbewegungen emotionsfrei auszuwerten und Handelssignale zu generieren. Das Portfoliomanagement hat die Freiheitsgrade, dies flexibel in Long- oder Short-Positionen umzusetzen. Ein gutes Beispiel ist die Gewichtung von US-Tech-Werten: Hier reduzierte die KI frühzeitig gegen den Trend und nahm mit einer Bevorzugung europäischer Indizes eine Entwicklung vorweg, die seit Dezember 2024 für eine Outperformance etwa des DAX gegenüber den sogenannten Mag7-Titeln um 56% führte.
e-fundresearch.com: Welche Vorgaben geben Sie der KI dabei?
Michael Günther: Die maschinelle Intelligenz soll die skizzierten Diversifikationskriterien bestmöglich erfüllen und eine echte Unabhängigkeit zum Aktienmarkt gewährleisten. Auf Basis von Preisdaten soll sie eigenständig Zusammenhänge im Markt herleiten, ohne dass wir Hypothesen mit auf den Weg geben. Dieses dekorrelierte Alpha lässt sich empirisch - Aktien (-0,01), Bundesanleihen (-0,14) sowie Gold (-0,03) und Rohstoffe (-0,11) - nachhalten.
e-fundresearch.com: Welche übergreifenden Empfehlungen zum Thema Diversifikation haben Sie abschließend für unsere Leser?
Michael Günther: Die strengsten Kriterien, die wir selbst anwenden, dürften sein: Reduziert der beigemischte Baustein die Schwankungsbreite des Gesamtportfolios? Stabilisiert er durch seine Korrelationseigenschaften bei Kursrückschlägen das Kernportfolio? Und drittens: Führt die Streuung, egal welches Ausgangsportfolio Sie heranziehen, zu einer effizienteren Kapitalanlage durch Verbesserung des Ertrag-Risiko-Profils?
e-fundresearch.com: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Günther.
Über Michael Günther:
Michael Günther ist KI-Entwickler und Portfoliomanager bei Tungsten Capital (Frankfurt am Main). Die Strategie Tungsten TRYCON gehört zu den etablierten KI-Investmentlösungen im DACH-Raum mit einem verwalteten Fondsvermögen von über 200 Millionen Euro.
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