Das Protokoll der letzten EZB-Sitzung, das am vergangenen Donnerstag veröffentlicht wurde, hat die Erwartungen der Märkte in Bezug auf eine aggressive Straffung gefestigt, da die Zentralbank die Zinssätze nun in jeder Sitzung von Juli bis Dezember um 0,25 % anheben wird.
Eine so schnelle Straffung könnte eine Rezession auslösen. Die Eurozone ist nicht die USA: Die Ersparnisse der privaten Haushalte sind während der Pandemie um 15 % gestiegen, verglichen mit 232 % in den USA. Die Löhne in der Eurozone steigen um etwa 2 % und damit um mehr als 5 % weniger als die Inflation. Die Haushalte werden immer ärmer.
Die Inflation in der Eurozone ist eher auf Versorgungsunterbrechungen und Energiepreise zurückzuführen als auf die starke Nachfrage. Ohne Berücksichtigung der Inflation wachsen die Einzelhandelsumsätze in der Eurozone nur um 1,3 % im Jahresvergleich, während sie in den USA um 7,9 % steigen.
Der kurzfristige Rückenwind darf die EZB nicht über den langfristigen Gegenwind hinwegsehen lassen. Die Wirtschaft des Euroraums dürfte von der Aufhebung aller Covid-Beschränkungen profitieren, aber dieser Schub dürfte höchstens ein paar Monate anhalten. Die Fremdenverkehrssaison dürfte ihr bis ins dritte Quartal des Jahres hinein weiteren Auftrieb verleihen. Diese kurzfristigen Rückenwinde dürfen die EZB jedoch nicht über die langfristigen Gegenwinde hinwegtäuschen: strukturell höhere Energiepreise, die Verknappung der derzeit aus Russland importierten Metalle, die massiven Investitionen, die für den Ausstieg aus den Co2-Verschmutzern erforderlich sind, und eine möglicherweise jahrelang anhaltende Flüchtlingskrise.
Eine Wiederholung des politischen Fehlers von 2011 könnte sich anbahnen. Die Chancen stehen gut, dass die hohe Inflation und das positive Wachstum im Sommer anhalten und die EZB davon überzeugen, dass die Wirtschaft eine aggressive Verschärfung der finanziellen Bedingungen verkraften kann, ohne in eine Rezession abzugleiten. Dann könnte der kurzfristige Rückenwind dem langfristigen Gegenwind weichen, und das Jahr 2023 wird eine Verlangsamung des Wachstums und der Preise bringen, die viel stärker ausfällt, als von der EZB oder allen anderen gewünscht.
Matteo Cominetta, Senior Economist beim Barings Investment Institute