Das Coronavirus hat die Bruchstellen in der Europäischen Union (EU) erneut aufgezeigt. Vorerst dürften die Anleihenkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) den Laden zusammenhalten. Doch letztendlich werden die nationalen Regierungen einige harte Entscheidungen treffen müssen, um die Zukunft der EU zu sichern.
Die internen Ungereimtheiten der Europäischen Union werden oft verschleiert, wenn das wirtschaftliche und politische Umfeld günstig ist, um dann wieder aufgedeckt zu werden, wenn sich die Aussichten verdunkeln. Das letzte große Beispiel dafür war die Staatsschuldenkrise vor fast einem Jahrzehnt. Jetzt, da wir in ein neues Jahrzehnt eintreten, hat die COVID-19-Pandemie eine weitere potenzielle existenzielle Krise ausgelöst.
Beeindruckende Reaktion übertüncht grundlegende Probleme
Die Geschwindigkeit und das Ausmaß der europäischen Reaktion auf COVID-19 waren beeindruckend. Die direkten fiskalischen Anreize haben 3 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Eurozone erreicht (Tendenz steigend), während zusätzliche 16 % des Bruttoinlandsprodukts in Form von Kreditgarantien und Steuerstundungen zugesagt wurden. Und diese Maßnahmen erfolgen zusätzlich zu den bestehenden Sicherheitsnetzen oder automatischen Stabilisatoren, die in den meisten europäischen Ländern umfangreich sind. Schon vor der Krise gab es in Deutschland und Italien Regelungen zur Subventionierung der Einkommen von beurlaubten Arbeitnehmern.
Diese Unterstützung wird von den nationalen Regierungen bereitgestellt. Sie wird jedoch auf kollektiver Ebene durch eine Aussetzung der Haushaltsregeln des Euroraums und durch ein Liquiditätshilfepaket in Höhe von 540 Milliarden Euro (4,5 % des BIP) untermauert. Letzteres beinhaltet eine Fazilität für Regierungen, bis zu 2 % ihrer nationalen Produktion aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (European Stability Mechanism, ESM) mit sehr geringen Auflagen zu leihen (das Geld muss nur direkt oder indirekt für das Gesundheitswesen ausgegeben werden). Die Europäische Zentralbank (EZB)hat alle diese Maßnahmen unterstützt und versprochen, ihre Anleihenkäufe um mindestens 870 Milliarden Euro (7 % des BIP) zu erhöhen und diese Käufe gegebenenfalls flexibler einzusetzen, um schwächere Staaten der Eurozone zu unterstützen.
Trotz dieser Bemühungen hat der Ausbruch von COVID-19 schwere Mängel in der politischen und institutionellen Architektur der Eurozone aufgedeckt. Politisch hat er uns daran erinnert, dass die europäische Solidarität oft nur oberflächlich ist. In institutioneller Hinsicht hat er das Fehlen einer zentralisierten Finanzbehörde aufgezeigt, die durch eigenes Steueraufkommen in der Lage wäre, gemeinsame Schocks zu bewältigen. Hinzu kommt, dass die einzelnen Länder des Euroraums keine Kreditgeber der letzten Instanz haben, trotz der tapferen Versuche der EZB, dieses Manko kleinzureden.
Kurzum, der europäischen Währungsunion fehlen nach wie vor wichtige Elemente einer politischen oder fiskalischen Union. Das bedeutet, dass die Region immer unter extremem Stress leiden wird, wenn die Weltwirtschaft in Schwierigkeiten gerät und sich die Finanzierungsbedingungen zu verschlechtern beginnen. Unabhängig von der Bewertung des bisherigen Verhaltens der einzelnen Länder wird dieser Stress immer unverhältnismäßig stark von den stärker verschuldeten Ländern (in denen natürlich der populistische Druck bereits zunimmt) empfunden werden.
Kann die EU das positive Momentum beibehalten?
Die Bemühungen, diese Mängel zu beheben und eine gemeinsame Antwort auf COVID-19 zu orchestrieren, waren bisher enttäuschend. In der vergangenen Woche haben die europäischen Staats- und Regierungschefs die bereits von den Finanzministern beschlossenen Maßnahmen zur Liquiditätsunterstützung abgesegnet. Sie waren sich auch darin einig, dass dringend ein substanzieller Sanierungsfonds benötigt wird, um die Volkswirtschaften wieder aufzubauen, sobald die Krise im Bereich der öffentlichen Gesundheit überwunden ist. Es gab jedoch keine Einigung über die Schlüsselfrage, wie die Finanzhilfe bereitgestellt werden sollte – würde sie in Form von Darlehen oder Zuschüssen erfolgen? Darlehen würden die nationalen Bilanzen weiter belasten. Ein Jahrzehnt nach der Staatsschuldenkrise ist die Eurozone in dieser Schlüsselfrage nach wie vor tief gespalten.
Angesichts dieser kontroversen Debatte wird es wahrscheinlich einige Zeit dauern, bis sich die europäischen Staats- und Regierungschefs auf die Modalitäten eines Sanierungsfonds einigen können. Unabhängig vom Ergebnis ist es jedoch höchst unwahrscheinlich, dass sich die Gläubigernationen Nordeuropas darauf einigen werden, sich gegenseitig Schulden in dem Umfang zuzuschieben, der zur Refinanzierung des Wiederaufbaus Südeuropas nach der Krise erforderlich ist. Das bedeutet aber nicht, dass es keine gemeinsam finanzierte Hilfe geben wird. Es bedeutet nur, dass der Großteil der schweren Lasten bei den nationalen Regierungen verbleiben wird – natürlich erleichtert durch Anleihenkäufe der EZB.
Letztendlich gibt es Grenzen für das Ausmaß, in dem die EZB weiterhin dort tätig werden kann, wo die Regierungen davor zurückscheuen, sich einzumischen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese Grenzen bald erreicht werden. Solange das nicht der Fall ist, wird die EZB weiterhin einen starken Einfluss auf die Solvenz hochverschuldeter Länder der Eurozone, wie Italien, ausüben.
Gläubiger- und Schuldnerregierungen müssen eine gemeinsame Basis finden
Vor dem Ausbruch des Coronavirus hatte Italien die zweithöchste Staatsschuldenquote in Europa (135 % des BIP) und extrem schlechte langfristige Wachstumsaussichten. Da die Wirtschaft in diesem Jahr um etwa 10 % schrumpfen wird und das Haushaltsdefizit wahrscheinlich noch höher ausfallen wird, wird die italienische Staatsverschuldung wahrscheinlich auf etwa 160 % des Bruttoinlandsprodukts ansteigen. Diese Verschuldungsquote wäre höher als die Verschuldungsquote der griechischen Regierung im Jahr 2009. Es überrascht nicht, dass die italienische Regierung besorgt ist, dass jeder Versuch, ihre Wirtschaft im nächsten Jahr fiskalisch zu sanieren, ihre Solvenz noch weiter untergraben würde. Ohne die Unterstützung der EZB wäre Italien bereits zahlungsunfähig.
Die Gläubigernationen sind natürlich skeptisch gegenüber jeglichen Schritten, die letztlich zu einer groß angelegten Vergemeinschaftung der Schulden führen könnten. Doch sie erkennen die Notlage von Ländern wie Italien durchaus an und sind sich auch bewusst, dass ein Mangel an Solidarität, insbesondere in einer Zeit, in der alle Länder des Euroraums einem beispiellosen externen Schock ausgesetzt sind, die Meinung der Schuldnerländer über die EU zutiefst schädigen könnte.
Hauptleidtragender des jüngsten Streits zwischen Schuldnern und Gläubigern in der Eurozone waren die italienischen Anleihenrenditen, die in den letzten Wochen stark angestiegen sind. Das hat die italienische Regierung bereits dazu veranlasst, ihren Widerstand gegen die Aufnahme von ESM-Anleihen aufzuweichen. Obwohl der Europäische Stabilitätsmechanismus zu klein für eine große Lösung ist, ist er symbolisch wichtig, weil er (zumindest theoretisch) die Tür für uneingeschränkte Anleihenkäufe über das Offenmarkttransaktionsprogramm (Outright Monetary Transactions, OMT) der EZB öffnen könnte. Solange Europa keinen entscheidenden Schritt in Richtung einer Steuerunion unternimmt, wird der Zusammenhalt der Eurozone also weiterhin vor allem von der Europäischen Zentralbank abhängen – die ihr Mandat weiterhin bis zum absoluten Maximum ausdehnt.
Vor etwas mehr als einem Monat hat die EZB ihre neueste Version von „whatever it takes“ vorgelegt, in der sie versprach, „alle Optionen und alle Eventualitäten zur Unterstützung der Wirtschaft zu prüfen“, und hinzufügte, dass sie „keine Risiken für die reibungslose Übertragung ihrer Geldpolitik in allen Ländern der Eurozone tolerieren wird“. Vorläufig sollte diese Bereitschaft ausreichen, um die italienischen Anleihenrenditen unter Kontrolle zu halten. Wir bezweifeln jedoch, dass diese Unterstützung auf längere Sicht tragbar ist. Letztendlich müssen die Entscheidungen, denen die EZB vorgreift, von demokratisch gewählten Regierungen getroffen werden.
Darren Williams ist Chefvolkswirt von AllianceBernstein (AB).
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