Angesichts der Marktreaktionen auf eine Welle neuer Zölle und veränderte fiskalpolitische Rhetorik haben wir uns mit Olga Bitel, Partnerin und Strategin im globalen Aktien-Team von William Blair, zusammengesetzt, um ihre Einschätzung zur Weltwirtschaft zu aktualisieren. In diesem ausführlichen Gespräch gibt Olga eine offene Bewertung der Wachstumsaussichten in den USA, Europa und den Schwellenländern (EMs) – und erklärt, warum die Weltwirtschaft auf ein „Luftloch“ zusteuern könnte: eine Phase, in der die Belastung durch Zölle einsetzt, bevor etwaige kompensierende Maßnahmen wie Steuersenkungen oder Deregulierung Wirkung zeigen können. Die kommenden Monate, so ihre Einschätzung, werden zum Belastungstest für die Widerstandsfähigkeit der Erholung nach der Pandemie.
Letzten Herbst sprachen Sie davon, dass die USA und große Teile der Welt in der ersten Jahreshälfte 2022 eine weiche Landung geschafft hätten – seither befinden sich die USA im Aufschwung. Haben die aktuellen Handelskonflikte diesen Aufschwung gefährdet?
Olga: Die Wirtschaftspolitik der aktuellen US-Regierung – insbesondere im Bereich Handel – verschlechtert das Verhältnis zwischen Wachstum und Inflation. Konkret heißt das: Das BIP-Wachstum dürfte sich bis Jahresende deutlich verlangsamen, während die Inflation volatiler wird und möglicherweise sogar steigt. Die Balance zwischen Wachstum und Inflation hat sich damit verschlechtert.
Was erwarten Sie für das zweite Quartal?
Olga: Um das beurteilen zu können, lohnt ein Blick auf das erste Quartal. Die private Binnennachfrage war relativ stabil. Der Konsum trug 1,2% zum BIP-Wachstum bei, Investitionen weitere 1,3%. Insgesamt wuchs die private Binnennachfrage damit um 2,5%. Das ist nur eine moderate Verlangsamung gegenüber den vorherigen drei Quartalen – wobei die saisonalen Anpassungen in den USA seit Jahren problematisch sind. Deshalb wirken die Zahlen für das erste Quartal regelmäßig schwächer als sie tatsächlich sind.
Was das erste Quartal diesmal unterschied, war der negative Effekt durch Lagerbestände – sie machten das gesamte Wachstum der privaten Binnennachfrage zunichte. Die entscheidende Frage ist daher: Was hat den Lageraufbau verursacht?
Viele behaupten, Unternehmen hätten im Vorfeld erwarteter Zölle vorgezogen und Waren eingelagert. Doch es gibt kaum Hinweise auf eine breit angelegte Vorratshaltung. Tatsächlich waren zwei Faktoren für den Lageraufbau ausschlaggebend:
Erstens gab es einen deutlichen Anstieg der Goldimporte. Ob dieser staatlich veranlasst war oder auf finanzielle Absicherungsstrategien zurückging, ist unklar – jedenfalls stand er nicht im Zusammenhang mit produktiver wirtschaftlicher Aktivität.
Zweitens scheinen Hersteller mit Blick auf die anstehenden Section-232-Prüfungen – die voraussichtlich Halbleiter, Autos, Medikamente und möglicherweise Stahl betreffen werden – vorausschauend Lager aufgebaut zu haben. Rund 40% des Lageraufbaus entfielen auf die Bevorratung von Arzneimitteln. Hinzu kam ein kleiner, volatiler Anstieg bei Pkw-Zulassungen und bei bestimmten Computerausrüstungen, vor allem im Zusammenhang mit dem Ausbau von Rechenzentren.
Fazit: Die Binnennachfrage war im ersten Quartal gesund – etwaige Schwächen in den Gesamtzahlen sind auf nicht produktive Lagerverzerrungen zurückzuführen.
Ich rechne damit, dass sich die Auswirkungen der Zölle zwischen Ende Mai und Anfang Juli bemerkbar machen werden – angesichts der Lieferzeiten von 45 bis 60 Tagen vom Hafen bis zum Endkunden und der Tatsache, dass einige Frachtschiffe Anfang April verspätet oder gestoppt wurden. Das wird wohl zu Preisschwankungen führen – auch ohne neue Zölle. Hinzu kommt Unsicherheit über die sogenannte de minimis-Ausnahme, was den Fluss kleiner Pakete weiter stören und Preise erhöhen könnte.
Wir stehen also vor einer Phase, in der das BIP-Wachstum zurückgehen und die Inflationsvolatilität zunehmen dürfte. Erste Anzeichen für die Verschlechterung des Wachstums-Inflations-Verhältnisses erwarte ich noch in diesem Quartal.
Die Märkte haben sich nach dem ersten Schock Anfang April wieder stabilisiert. Wie würden Sie die aktuelle Situation beschreiben? Stecken wir bereits im „Luftloch“?
Olga: Noch nicht – aber wir steuern darauf zu. Mit „Luftloch“ ist die Phase gemeint, in der die wirtschaftlich negativen Folgen der Zölle einsetzen, aber potenzielle Impulse durch Steuersenkungen oder Deregulierung – falls sie überhaupt kommen – noch nicht greifen.
Zollbedingte Störungen sind bereits sichtbar. Auch wenn unklar ist, wie die Politik am Ende aussieht – schon die Unsicherheit belastet Lieferketten und Preisbildung. Gleichzeitig ist nicht zu erwarten, dass fiskalische Gegenmaßnahmen – etwa Steuersenkungen – vor Spätsommer oder Frühherbst beschlossen werden. Dann ist ein Großteil des Jahres bereits vergangen. Was Deregulierung betrifft, ist der Zeitrahmen noch unklarer, und Effekte würden ohnehin nur langsam wirken.
Wir befinden uns also eher in der Vorstufe zum Luftloch: Die Störungen haben begonnen, politische Gegenmaßnahmen stehen aber noch aus.
Wie verändert das kürzlich geschlossene Zwischenabkommen mit China Ihre Einschätzung – und wie bewerten Sie Chinas starkes Wachstum im ersten Quartal?
Olga: Die USA haben letztlich nachgegeben. Sie haben nahezu alle Vorbedingungen Chinas akzeptiert, nur um überhaupt Verhandlungen aufnehmen zu können – und diese erfolgen nun zu Chinas Bedingungen. Das Etikett „Zwischenabkommen“ verschleiert, dass es sich um eine Kehrtwende handelt: Die USA rücken von ihrem konfrontativen Kurs ab, vermutlich, weil sie erkannt haben, dass sie keine substanziellen Zugeständnisse erzwingen können. Die Märkte reagierten positiv, weil sich die Richtung geändert hat. Die Wahrnehmung ist nun: Wenn die Regierung erkennt, dass Zolldrohungen wirkungslos sind, wird sie diese auch wieder zurücknehmen. Diese veränderte Tonlage hat die Märkte gestützt.
Ist das neue Handelsabkommen der USA mit dem Vereinigten Königreich ein Vorbote für künftige bilaterale Abkommen?
Olga: Eher nicht. Das, was zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich vereinbart wurde, als „Handelsabkommen“ zu bezeichnen, ist übertrieben. Es handelt sich nicht um ein umfassendes, rechtlich verbindliches Dokument mit klaren Regeln und Durchsetzungsmechanismen, sondern um eine Reihe von Ausnahmen im bestehenden Rahmen. Selbst diese Ausnahmen werden mindestens ein Jahr zur Umsetzung brauchen – bis dahin herrscht Unklarheit für Unternehmen. Und wenn selbst die Überarbeitung eines bestehenden Abkommens mit einem engen Verbündeten derart mühsam ist, kann man sich vorstellen, wie schwierig es wäre, mit Dutzenden Ländern gleichzeitig bilaterale Abkommen zu verhandeln.
Zum Vergleich: In derselben Woche hat das Vereinigte Königreich ein umfassendes Handelsabkommen mit Indien unterzeichnet. Diese Verhandlungen dauerten drei Jahre und umfassen sowohl Waren- als auch Dienstleistungen. Auch wenn der Handelsumfang zwischen Großbritannien und Indien derzeit noch überschaubar ist, zeigt der Deal doch: Indien – eines der am stärksten abgeschotteten Länder weltweit – beginnt, seine Handelsbarrieren abzubauen.
Zudem treibt Indien auch Gespräche mit der EU voran – ein Indiz für einen grundlegenden Kurswechsel. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, könnte Indien bis zum Ende des Jahrzehnts deutlich offener für den globalen Handel werden.
Wer also nach einem Wegweiser für die Zukunft des Welthandels sucht, sollte eher das Abkommen zwischen Großbritannien und Indien als das mit den USA im Blick haben.
Viele optimistische Konjunkturprognosen unter Präsident Trump beruhten auf der Hoffnung auf Deregulierung und Steuerreformen. Spiegelt sich das mittlerweile in konkreten Maßnahmen wider?
Olga: Schwer zu sagen, denn bisher wurde noch nichts umgesetzt. Am häufigsten wird über eine vollständige steuerliche Sofortabschreibung für Ausrüstungen, Fabrikgebäude und Installationen gesprochen – das soll Investitionen fördern. Daneben gibt es populistische Ideen wie die Steuerbefreiung von Trinkgeldern oder Überstundenvergütungen. Diese Maßnahmen wären aber wohl zeitlich befristet. Denkbar sind auch mildere Anreize – etwa Steuervergünstigungen auf Autokredite für in den USA hergestellte Fahrzeuge. Solange aber nichts gesetzlich beschlossen ist, bleibt alles Spekulation.
Halten Sie diese Maßnahmen für wachstumsfördernd?
Olga: Nein. Wenn das Ziel nachhaltiges Wirtschaftswachstum ist, reicht dieser Ansatz nicht aus. Kurzfristig könnten solche Maßnahmen das verfügbare Einkommen erhöhen und so den Konsum etwas ankurbeln – als milder Ausgleich für den Kaufkraftverlust durch Zölle. Aber diese Effekte wären nur vorübergehend. Gleichzeitig würden die Maßnahmen das Haushaltsdefizit deutlich erhöhen, ohne die Produktivität oder Investitionsanreize signifikant zu verbessern. Es mag also einen kurzfristigen Nachfrageimpuls geben, aber keine Basis für langfristiges, angebotsseitiges Wachstum.
Wie sieht es mit den Schwellenländern aus? Sind sie durch Zölle etwas abgeschirmt?
Olga: Nicht wirklich. Ein einheitlicher Sockelzoll von 10% gilt generell – das ist die Untergrenze, nicht die Ausnahme. Es gibt keine Sonderregelungen für Schwellenländer. Länder wie Costa Rica oder Madagaskar, die wenig Einfluss haben und keine Schlüsselrollen in politisch sensiblen Lieferketten spielen, sind schlichtweg exponiert. Wer nicht produziert, was die USA wollen – oder nicht zurückschlagen kann – hat keinen Schutz.
Eine gewisse Entlastung könnte durch einen schwächeren US-Dollar kommen, der externe Schuldenlasten verringert und Exporte der EMs wettbewerbsfähiger macht.
Insgesamt hängt die Reaktion auf Zölle davon ab, wer genug Binnennachfrage generieren kann, um den Schock abzufedern. Höherer Konsum in China oder mehr Investitionen in der EU sind auf Makroebene die relevanteren Gegenpole.
Sie haben kürzlich auf tiefgreifende Veränderungen in Europa hingewiesen und auf das beschleunigte Wachstum dort. Was ist aus Ihrer Sicht der größte Risikofaktor für Europa?
Olga: Ganz klar: die Regierungsführung. In Europa müssen mehr als 20 Länder demokratisch über Ausgabenprioritäten entscheiden – das ist kein Rezept für Schnelligkeit oder Effizienz.
Gleichzeitig ist der Wandel in Deutschland bemerkenswert. Ein Land, das sich jahrelang gegen fiskalische Ausgaben gesträubt hat, verpflichtet sich plötzlich zu 500 Milliarden Euro – vermutlich mehr. Das zeigt einen neuen Ernst, den man nicht ignorieren sollte.
Strukturell aber bewegt sich Europa (und in geringerem Maße auch Japan) eher langsam. Entscheidungen dauern. Auch wenn die Richtung stimmt, bleiben Tempo und Koordinationsrisiken bedeutend.
Olga Bitel, Partnerin, ist eine globale Strategin im globalen Aktienteam von William Blair.
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