Seit Jahrzehnten stützen sich Investoren bei der Bewertung von Investitionsmöglichkeiten auf traditionelle Finanzkennzahlen und materielle Vermögenswerte. Derzeit findet jedoch ein grundlegender Wandel in der Art und Weise statt, wie Unternehmenswert geschaffen und gemessen wird. Heute wird der wahre Wert eines Unternehmens zunehmend von immateriellen Vermögenswerten und externen Faktoren bestimmt.
Der Aufstieg der immateriellen Vermögenswerte
Immaterielle Vermögenswerte wie Humankapital, geistiges Eigentum (IP), Markenruf und Kundenbeziehungen sind heute die wichtigsten Treiber für Unternehmenswachstum und Shareholder Value. Die folgende Grafik veranschaulicht den dramatischen Anstieg der immateriellen Vermögenswerte der Unternehmen im S&P 5001-Index von 17% des gesamten Unternehmenswertes im Jahr 1975 auf 90% bis Ende 2020.2
Weitere Belege für den Trend
Weitere Belege für diesen Trend und den Einfluss immaterieller Vermögenswerte auf die Unternehmensleistung liefert ein neuer wissenschaftlicher Artikel, der in European Financial Management veröffentlicht wurde, einer renommierten Fachzeitschrift für internationale Wissenschaftler und Praktiker im Bereich Finanzmanagement moderner Unternehmen.
In der Studie „The Role of Intangible Assets in Shaping Firm Value“ („Die Rolle immaterieller Vermögenswerte bei der Gestaltung des Unternehmenswerts“) kommen die Professoren Feng Dong und John Doukas zu dem Ergebnis, dass die Intensität immaterieller Vermögenswerte ein starker Indikator für die Unternehmensleistung ist. Unternehmen mit einem hohen Anteil an immateriellen Vermögenswerten erzielten demnach jährlich rund 3% bessere Ergebnisse als ihre Wettbewerber.3
Das Aufkommen von Künstlicher Intelligenz (KI) dürfte diese Entwicklung noch weiter beschleunigen und den Wert immaterieller Vermögenswerte zusätzlich steigern. KI-Systeme basieren in hohem Maße auf proprietären Daten, Algorithmen und Modellen, allesamt zentrale immaterielle Vermögenswerte. Unternehmen, die über hochwertige Datensätze verfügen oder fortschrittliche KI-Fähigkeiten entwickeln, könnten diese immateriellen Güter zunehmend als Kern ihres Wettbewerbsvorteils erleben.
Beispiel für immaterielle Vermögenswerte: Humankapital
Das Wissen, die Fähigkeiten und die Erfahrung der Mitarbeitenden werden heute nicht mehr nur als Kostenfaktor betrachtet, sondern als entscheidende Quelle der Wertschöpfung.
Das McKinsey Global Institute untersuchte in seiner 2023 veröffentlichten Studie „Performance Through People“ rund 1.800 Unternehmen in 15 Ländern und identifizierte darin eine Gruppe von sogenannten „People and Performance Winners“.4
Diese Unternehmen zeichneten sich sowohl durch starke Maßnahmen zur Entwicklung des Humankapitals (etwa durch Weiterbildung, interne Mobilität und organisatorische Gesundheit) als auch durch herausragende finanzielle Ergebnisse aus. Sie wiesen auf:
30% höheres Umsatzwachstum pro investiertem Dollar in Human- und Organisationskapital,
geringere Fluktuationsraten und größere Ertragsstabilität in Krisenzeiten sowie
eine überdurchschnittliche Fähigkeit, Talente zu halten und zu motivieren, was sich in einer konstanteren langfristigen Performance niederschlug.
Laut McKinseys Vergleich über sechs zentrale Kennzahlen übertrafen die „People and Performance Winners“ ihre Wettbewerber insbesondere bei Kapitalrendite (ROIC), Umsatzwachstum, ökonomischem Gewinn und Fluktuationsrate.
Mit dem Fortschreiten der Automatisierung durch KI gewinnt der Wert menschlicher Fähigkeiten, etwa Kreativität, emotionale Intelligenz und strategisches Denken, weiter an Bedeutung. Dadurch steigt die Relevanz von Talentmanagement, Unternehmenskultur und Führung, die allesamt immaterielle Werttreiber darstellen.
Warum Externalitäten wichtig sind
Externalitäten sind die verborgenen Kosten und Nutzen der Geschäftstätigkeit eines Unternehmens, die Dritte oder die Gesamtwirtschaft betreffen. Wenn diese Auswirkungen finanziell relevant werden, können es sich Anleger nicht länger leisten, sie zu ignorieren.
Positive Externalitäten
Positive Externalitäten tragen dazu bei, Werte außerhalb des Unternehmens zu schaffen, und sind für Anleger relevant, weil sie zukünftiges Wachstum, verbesserte operative Widerstandsfähigkeit und reduziertes Risiko signalisieren können und potenziell den Aktionärswert erhöhen.
Beispielsweise können Investitionen in Forschung und Entwicklung oder in innovative Software Spillover-Effekte erzeugen, die die Produktivität steigern und branchenweite Innovationen anregen, was mitunter zu höheren Marktrenditen insgesamt führen kann.
Ebenso kann die Ausbildung von Arbeitskräften zu einem besser qualifizierten Arbeitskräfteangebot beitragen, das der breiteren Wirtschaft zugutekommt.
Auch starke Praktiken in den Bereichen Umweltschutz, soziale Verantwortung und Corporate Governance signalisieren operative Stabilität und Fokus auf Stakeholder, was potenziell die Kapitalbeschaffungskosten eines Unternehmens senken und Investoren anziehen kann, die diese Faktoren priorisieren.
Wir sind der Überzeugung, dass Unternehmen, die Innovationen entwickeln, um ökologische Herausforderungen zu lösen oder gesellschaftliche Bedürfnisse zu adressieren, von uns als „Enabler“ bezeichnet, beträchtliche Marktchancen erschließen können.
Investitionen, die beispielsweise zu geringerem Abfallaufkommen, einer besser ausgebildeten Belegschaft oder höherer Produktqualität führen, können eine stärkere Markenreputation und Kundentreue fördern und damit einen dauerhaften Wettbewerbsvorteil schaffen.
Negative Externalitäten
Umgekehrt können negative Externalitäten, oder unbeabsichtigte Nebenwirkungen, die andere tragen müssen, den Aktionärswert schmälern, indem sie Risiken erhöhen und das Wachstumspotenzial verringern.
Historisch gesehen wurden Unternehmen weniger für Externalitäten wie Verschmutzung durch Produktionsprozesse oder unsichere Arbeitsbedingungen zur Verantwortung gezogen.
Das ändert sich jedoch, da Unternehmen zunehmend unter Druck geraten, ihre negativen Auswirkungen zu berücksichtigen.
Diese „Internalisierung“ von Kosten kann durch Regulierung, nachlassende Nachfrage oder eine eingeschränkte Fähigkeit, Talente anzuziehen und zu halten, erfolgen.
Die Integration von immateriellen Werten und Externalitäten in Investitionen
Wir betrachten nachhaltiges Investieren seit Langem als Erweiterung der Fundamentalanalyse, bei der berücksichtigt wird, wie ökologische Beschränkungen, soziale Dynamiken und Governance-Strukturen die Fähigkeit eines Unternehmens beeinflussen, seine Strategie umzusetzen, Wettbewerbsvorteile zu sichern und Abwärtsrisiken zu steuern.
Im Kern sind wir der Überzeugung, dass nachhaltiges Investieren im weiteren Sinne bedeutet, immaterielle Vermögenswerte und Externalitäten in den Investmentprozess zu integrieren, da diese Faktoren zunehmend die langfristige Wertschöpfung und das Risiko prägen.
Dies ist keine ideologische Zielsetzung, sondern Ausdruck des Bewusstseins für das gesamte Spektrum finanziell relevanter Risiken und Chancen, die Anlageergebnisse beeinflussen können.
Um sich in dieser neuen Realität zurechtzufinden, halten wir es für wichtig, unsere Investmentrahmen und -instrumente kontinuierlich weiterzuentwickeln, um eine breiter werdende Palette potenzieller Werttreiber von Unternehmen zu erfassen.
Blake Pontius, CFA, ist Director of Sustainable Investing bei William Blair.
Weitere beliebte Meldungen:
1 Der S&P 500 Index ist ein Aktienmarktindex, der die Wertentwicklung von 500 der größten börsennotierten Unternehmen in den Vereinigten Staaten abbildet.
2 Quelle: Oceantomo.
3 Quelle: European Financial Management.
4f Quelle: McKinsey.