In den letzten Wochen sind die meisten Zentralbanken der Industrieländer vom Vollgas-Notfallmodus zu einem kontrollierten Rückzug aus der super-akkommodierenden Geldpolitik übergegangen. Zur Überraschung vieler setzten fast alle Anleihenmärkte auf breiter Front zu einer Rally an. „Angst vor dem Tapering“ scheint ein Narrativ zu sein, das sich nicht bewahrheitete. Das möglicherweise „richtige“ Narrativ zeigt sich, wenn man sich die Bilanzen der fünf größten Zentralbanken (FED, EZB, Bank of Japan, People‘s Bank of China und Bank of England) anschaut, die zusammenfasst knapp über 32 Billionen Dollar ausmachen. Ausgedrückt als Prozentsatz des globalen BIP wird dieser Wert Ende 2021 bei rund 95 Billionen Dollar bzw. etwa 33 % liegen. Das Wachstum der Bestände der „großen Fünf“ ist nach wie vor bemerkenswert. Wie bereits erwähnt, sind es nicht der Geldfluss (aktive Ankäufe von Vermögenswerten) und die Argumente, die die langfristigen Renditen in Schach halten. Es ist die Anziehungskraft des kombinierten, zusammengefassten Bestands und des im Laufe der Zeit angewandten Reinvestitionseifers, die die Finanzierungsniveaus am längeren Ende der Renditekurven auf niedrigen Niveaus verankert halten. Die nahezu sichere Gewissheit, dass quantitative Programme kommen und gehen werden, verschafft den Zentralbanken einen entscheidenden Informationsvorsprung gegenüber privaten Anleiheninvestoren. Japan steht mit einem Wert von 133 % für seine Notenbankbilanz als Anteil am nominalen BIP an erster Stelle. Die Eurozone folgt mit 64 % an zweiter Position. Die Zentralbanken der USA, Chinas und des Vereinigten Königreichs liegen bei etwa 33 % des BIP. Die Verankerung der langfristigen Renditen in den USA und in Großbritannien ist im Vergleich zu Japan und der Eurozone tatsächlich weniger ausgeprägt. Die chinesische Kapitalbilanz wird nach wie vor streng von der Notenbank kontrolliert. Die People‘s Bank of China diktiert die Währung und das Renditeniveau. Selbst wenn wir also eine kurze Phase zunehmender Renditevolatilität durchlaufen, ist die langfristige Volatilität fest in den Bilanzen etabliert. Diese Tatsache könnte einen echten Anleihen-Bärenmarkt im Wesentlichen verhindern.
Parallel zur Ausweitung der Bilanzen der Zentralbanken erlebten wir eine ähnliche Vermögenspreisinflation bei den wichtigsten Aktienindizes. Oft liest man, dass sich beide gegenseitig angetrieben und synchron entwickelt haben, aber ehrlich gesagt wäre das eine zu einfache Erklärung. Die Charakteristik erfolgreicher Unternehmen hat sich in den letzten 10 Jahren verändert. Sie weisen nun ähnliche Merkmale auf, da sie als Plattformunternehmen florieren und arbeiten, und agieren als digitale Ökosysteme, die Käufer und Verkäufer zusammenbringen. Netzwerkeffekte beschleunigen diese Entwicklung, wodurch sie große Marktanteile gewinnen und halten können. Plattformen verfügen über geringe Vermögenswerte, haben niedrige Grenzkosten und profitieren vom Networking. Die Geschäftsmodelle der Plattformen werden immer vielfältiger. White Labels wie Upwork Online Recruitment, Freemium-basierte Plattformen wie LinkedIn, der Private-Label-Ansatz von Amazon oder Token-basierte Modelle wie Open Bazaar... die Liste wird immer länger und ihre Dominanz in allen Sektoren weiter zunehmen. Dieses Phänomen hat den S&P 500 Index stark beeinflusst. Heute machen fünf Aktien (Apple, Microsoft, Google, Amazon und Tesla) etwa 25 % seiner Marktkapitalisierung aus. Tesla ist in den letzten Wochen an Facebook als Meta Plattform vorbeigezogen. Eine derartige Konzentration unter den fünf größten Unternehmen gab es zuletzt in den Jahren 1965 bis 1975, einer Ära, die von AT&T und insbesondere IBM dominiert wurde. Deren Dominanz verschwand nicht über Nacht. IBM war 21 Jahre lang das Unternehmen mit der größten Marktkapitalisierung. Apple hält diese Position „erst“ seit 10 Jahren. Wenn wir plattformbasierte Geschäftsmodelle als einen Sektor betrachten, wandeln wir uns eindeutig in ein völlig anderes Aktien-Anlageuniversum. Die Zusammensetzung der Indizes ändert sich rasch und damit auch ihr Risiko-Rendite-Profil. Die Übernahme von Bewertungsmodellen des 20. Jahrhunderts für Aktienindizes des 21. Jahrhunderts greift angesichts einer sich verändernden Realität zu kurz. Weiteres Research ist erforderlich, um das aktuelle Marktgeschehen und die Bewertungen besser zu verstehen.
Bei den Staatsanleihen werfen wir einen Blick auf die fünf höchsten und fünf niedrigsten 10-Jahres-Renditen in den G20-Ländern. Diese repräsentieren etwa 60 % der Weltbevölkerung, erwirtschaften 80 % des weltweiten BIP und stehen für 75 % des Welthandels. Die höchsten Renditen auf Dollar lautende 10-jähriger Staatsanleihen erzielen derzeit die Türkei mit 6,30 %, Brasilien mit 4,52 %, Mexiko mit 3,00 %, China mit 2,88 % und Russland mit 2,66 % (interpoliert). In dieser Spitzengruppe ist Argentinien nicht enthalten, da die meisten seiner Dollar-Staatsanleihen umstrukturiert wurden und unter der Bezeichnung „komplexe Wertpapiere“ geführt werden. Es ist überraschend, dass die Türkei angesichts des fragwürdigen Rufs ihrer Zentralbank von recht attraktiven Außenfinanzierungsniveaus profitiert. Die Haushaltskontrolle der Regierung und ein moderates Leistungsbilanzdefizit halten das Kreditrisiko in Grenzen. Brasilianische 10-jährige Dollar-Staatsanleihen gerieten nach einer restriktiven FED-Sitzung Ende September sowie aufgrund steigender finanzpolitischer Risiken unter Druck. Mexiko, China und Russland konsolidieren bei oder knapp unter 3,00%. Interessanterweise liegen die 10-jährigen Benchmark-Renditen auf Dollarbasis von Indonesien und Saudi-Arabien bei ähnlichen 2,50 %. Die fünf Schlusslichter bilden Deutschland mit 10-jährigen Renditen von fast -0,30 %, Frankreich mit +0,05 %, Japan mit +0,06 % (in Yen), das Vereinigte Königreich mit +0,84 % (in Pfund) und Italien mit +0,87 %. Das Mittelfeld bilden die 10-jährigen Renditen der USA, Kanadas und Australiens, die in Landeswährung zwischen 1,45 % und 1,80 % liegen. Ohne die Türkei und Argentinien schwanken die 10-jährigen Renditen der G20-Mitglieder innerhalb einer 5%-Spanne von -0,30 % bis 4,5 %. Lässt man Deutschland und Brasilien außer Acht, ergibt sich eine Spanne von 0,00% bis 3,00%. Zeitlich betrachtet überwogen alles in allem die Konvergenz- gegenüber den Divergenz-Phasen. Meistens war der Divergenzstress nur von kurzer Dauer und zog institutionelle Anleger an, die auf der Suche nach Rendite waren. Es gibt kaum Anzeichen dafür, dass ein bevorstehender, weniger akkommodierender geldpolitischer Kurs der Industrieländer den zugrunde liegenden Konvergenztrend brechen wird.
Die fünf wichtigsten Wirtschaftsindikatoren - Wachstum, (Nicht-)Beschäftigung, Inflation, Nachfrage, Angebot und internationaler Handel - stellen die Fundamentaldaten dar, die für sich genommen ein völlig anderes Bild ergeben würden als das oben beschriebene. Die anhaltend interventionistische Geld- und Finanzpolitik hat den Signalwert der Wirtschaftsdaten verringert.
Konvergenz zwischen den wirtschaftlichen Fundamentaldaten und den Finanzmärkten wird noch nicht morgen gegeben sein. Die laufende Revolution der Geschäftsmodelle im 21. Jahrhundert findet genau in dem Moment statt, in dem die öffentliche Hand sichtbar versucht, integratives Wachstum und soziale Gerechtigkeit zu fördern. Die zusätzlichen Herausforderungen des Klimawandels, die dringend angegangen werden müssen, verschrecken die politische Führung. Auf dem G20-Gipfel und der COP26 wurden viele Zusagen gemacht. Zusagen haben eine schlechte Erfolgsbilanz. Die „großen Fünf“, auf die 60 % der weltweiten Treibhausgasemissionen entfallen - China, die USA, Indien, Russland und Japan - haben ihre Zusagen mit angezogener Handbremse gemacht. Das bedeutet, dass die Divergenz zwischen der wirtschaftlichen Realität und den Finanzmarktindikatoren in den verschiedenen Anlageklassen eher zu- als abnehmen wird.
Peter De Coensel, CEO von DPAM