Folgende kerntechnische Tätigkeiten können laut der EU-Taxonomie aufgenommen werden:
- Neue Kernkraftwerke zur Stromerzeugung mit einer Baugenehmigung vor 2045
- Änderungen und Nachrüstungen bestehender Kernkraftwerke (d. h. Laufzeitverlängerungen) werden bis 2040 genehmigt
- Tätigkeiten im Zusammenhang mit Forschung und Innovation im Bereich der Sicherheitsstandards und der Abfallminimierung können ebenfalls einbezogen werden.
Gaswirtschaftliche Tätigkeiten, die in die EU-Taxonomie aufgenommen werden können, sind:
- Stromerzeugung oder Kraft-Wärme-Kälte-Kopplung aus fossilen, gasförmigen Brennstoffen,
- Tätigkeiten mit einer Baugenehmigung vor 2030 werden einbezogen, wenn die direkten Emissionen unter 270 Gramm CO2/kWh liegen. Falls diese Tätigkeiten der Stromerzeugung dienen, werden sie ebenfalls berücksichtigt, wenn die jährlichen direkten Treibhausgasemissionen einen Durchschnitt von 550 kg CO2/kW über 20 Jahre nicht überschreiten. Zu beachten ist, dass nach 2030 ein noch strengerer Schwellenwert von 100 g CO2/kWh gilt.
- Diese Aktivitäten müssen eine Anlage ersetzen, die feste oder flüssige fossile Brennstoffe verwendet, und bis 2035 eine Umstellung auf erneuerbare oder kohlenstoffarme Gase gewährleisten. Außerdem sollten sie regelmäßig auf ihre Einhaltung überprüft werden.
Das Hauptargument der Kommission für die Aufnahme dieser Tätigkeiten in die Taxonomie ist, dass sie zu einer stabilen Grundlastversorgung beitragen, die die Schwankungen der derzeitigen Technologien für erneuerbare Energien auszugleichen hilft. Hinsichtlich der Vereinbarkeit der Kernenergie mit der Anforderung, keinen nennenswerten Schaden anzurichten, stützte die Europäische Kommission ihren Vorschlag auf das Argument der Gemeinsamen Forschungsstelle, dass die bestehenden Technologien die wesentlichen negativen Auswirkungen der Kernenergie zu vertretbaren Kosten ausgleichen können.
Wie sollten wir diese Kriterien verstehen?
Nachfrageszenarien der Internationalen Energieagentur und der EU, die mit einem Ziel von maximal 1,5°C vereinbar sind, zeigen, dass die Gasnachfrage nach 2030 sinken muss. Die technischen Screening-Kriterien gehen indirekt auf dieses Problem ein, indem sie von den Gasbetreibern den Nachweis verlangen, dass ihre Anlagen technisch für eine schrittweise Umstellung auf erneuerbare und kohlenstoffarme Gase gerüstet sind. Damit wird sichergestellt, dass diese Anlagen flexibel genug sind, um künftige technologische Entwicklungen (wie die Verwendung von grünem Wasserstoff in Gaskraftwerken anstelle von Erdgas [Methan]) zu berücksichtigen, und dass sie mit dem EU-Ziel der Kohlenstoffneutralität vereinbar sind. Der vorgeschlagene Zeitrahmen für den Abschluss der Umstellung bis 2035 ist zwar sehr ehrgeizig, aber notwendig, um das EU-Ziel für 2050 zu erreichen.
- Wenn wir die derzeitigen Technologien betrachten und Wasserstoff, Biogas oder Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (CSS) ausschließen, wird es eine ziemliche Herausforderung sein, den Schwellenwert von 270 g CO2/KWh zu erreichen. Die neuesten Gas- und Dampfturbinenkraftwerke haben eine Intensität von etwa 333 g CO2/kWh. Effizienzsteigerungen sind möglich. Diese werden jedoch wahrscheinlich nur marginal sein und Zeit benötigen. CCS ist eine Option, doch seine technischen und kostenbezogenen Probleme sind nach wie vor zentrale Herausforderungen, deren Entwicklung Zeit in Anspruch nehmen wird. Infolgedessen müssen Gaskraftwerke möglicherweise die Beimischung von konventionellen Gasen zu Biogas oder grünem Wasserstoff (d. h. Wasserstoff, der mit Hilfe erneuerbarer Energien erzeugt wird) in Betracht ziehen, um ihre CO2-Intensität kurzfristig zu verringern.
- Wenn man sich auf den Durchschnitt von 550 kg CO2/kW pro Jahr über einen Zeitraum von 20 Jahren stützt, haben die europäischen Stromerzeuger mehr Zeit, ihre Stromerzeugung zu dekarbonisieren. Ihre Aktivitäten wären immer noch mit der Taxonomie vereinbar, solange sie ihre Emissionen in Zukunft ausreichend reduzieren und sich verpflichten, bis 2035 auf erneuerbare oder kohlenstoffarme Gase (wie Wasserstoff) umzustellen. Das Kriterium <550 kg CO2e/kW Jahresemissionen beschränkt die Gaskraftwerke auf einen Spitzenverbrauch und scheint nicht auszureichen, um mittelfristig die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, bis angemessene Beimischungsquoten erreicht sind.
- Laut dem Konzept der EU-Taxonomie sollen Gaskraftwerke keine Kernkraftwerke ersetzen. Der Bau neuer Gaskraftwerke in Belgien als Ersatz für Kernreaktoren steht folglich nicht im Einklang mit der EU-Taxonomie.
- Infrastrukturinvestitionen in den Transport, die Speicherung und die Verteilung von Erdgas werden in der EU-Taxonomie nicht berücksichtigt, es sei denn, diese Investitionen dienen der Anpassung dieser Infrastruktur für den Transport oder die Verteilung von Wasserstoff.
- Die Fristen 2030 (Gas) und 2040-2045 (Kernenergie) zeigen den Übergangscharakter dieser Technologien aus Sicht der EU.
- Es sind noch einige Herausforderungen zu bewältigen, z. B. die Entwicklung kohlenstoffarmer Gastechnologien in großem Umfang (grüner Wasserstoff, Biogas) und der Nachweis, dass der Gasbetrieb die Kohleförderung direkt ausgleicht.
Nächste Schritte
Das Europäische Parlament und der Rat haben vier Monate Zeit, um das Dokument zu prüfen, wobei sie zusätzlich zwei weitere Monate beantragt haben. Sie können Einwände gegen den Vorschlag erheben, ihn aber nicht abändern. Für einen Einspruch im Rat ist eine erweiterte qualifizierte Mehrheit erforderlich (mindestens 20 Mitgliedstaaten, die 65 % der EU-Bevölkerung vertreten), und im Europäischen Parlament ist eine Mehrheit für einen Einspruch erforderlich. Die Opposition gegen den Vorschlag war lautstark. Angesichts der hohen Einspruchsschwelle und der Unterstützung durch die größten europäischen Länder ist jedoch davon auszugehen, dass das Dokument dennoch verabschiedet wird. Vor allem die Kernenergie dürfte angesichts der Energiekrise und des EU-Plans, ihre Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern, Unterstützung erhalten. Wenn es keine Einwände gibt, wird das Gesetz am 1. Januar 2023 in Kraft treten.
Offenlegung der Taxonomie-Anpassung durch die Unternehmen
Da sich die Unternehmen kurzfristig darauf vorbereiten, Daten für eine detailliertere Berichterstattung zu sammeln, wird eine detaillierte Berichterstattung über die Taxonomie-Anpassung in den nächsten Jahren verpflichtend werden. Dies wird nicht nur die Transparenz erhöhen, sondern auch den Anlegern, die Wertpapiere europäischer Unternehmen halten, die Meldung ihrer eigenen Taxonomie-Ausrichtung erleichtern. Dies ist für Unternehmen, die Fonds mit Nachhaltigkeitszielen fördern, im Rahmen der EU- Offenlegungsverordnung nachhaltiger Finanzprodukte (SFDR) verpflichtend geworden.
Sind Investoren bereit, Kapital für die Stromerzeugung aus Kernkraft und Gas einzusetzen?
Grundsätzlich spiegelt die Entscheidung der EU-Kommission zu Gas- und Atomkraftwerken die wachsende Besorgnis über Energieversorgungsprobleme wider, die durch die Schwankungen der erneuerbaren Energien verursacht werden. Darüber hinaus erschwert der Ausstieg aus der Kohle- und der Atomkraft in Ländern wie Deutschland und Belgien die Situation zusätzlich. Diese Probleme werden wahrscheinlich so lange bestehen bleiben, bis Europa ein viel größeres Paket an erneuerbaren Energien einsetzt, flexible kohlenstofffreie Erzeugungstechnologien perfektioniert (z. B. die mit grünem Wasserstoff betriebene Stromerzeugung) oder Technologien zur Speicherung und Beseitigung von Kohlenstoff in großem Maßstab entwickelt.
Obwohl die EU-Taxonomie nun auch die Stromerzeugung aus Kernenergie und Gas einschließt, ist es immer noch unsicher, ob die Investoren bereit sind, Kapital in diese Branchen zu investieren. In einer kürzlich von Barclays[1] , durchgeführten Umfrage gaben rund 60 % der Befragten an, dass sie die Taxonomie bei der Erstellung ihrer Investitionspolitik aktiv nutzen. Für die meisten Investoren scheint die Aufnahme der Atom- und Gaskraftwerke in die EU-Taxonomie (unter bestimmten Bedingungen) jedoch keine Auswirkungen auf ihre Investitionspolitik zu haben. In der Tat dürften viele Investoren (vor allem Europäer) bereits im Vorfeld eine eindeutige Haltung zu Kernenergie und Gas eingenommen haben. So antworteten nur 9 % der Befragten positiv auf die Frage "Hat die Aufnahme von Kernkraft und Gas in die EU-Taxonomie etwas an Ihrer Investitionspolitik geändert?". Dies mag zum Teil daran liegen, dass viele Investoren der Meinung sind, dass die Schwellenwerte für die Förderfähigkeit von Atom- und Gaskraftwerken im Rahmen der Taxonomie zu niedrig angesetzt sind. Viele Anleger könnten jedoch auch " frei " geantwortet haben, weil sie es vorgezogen hätten, diese Brennstoffe überhaupt nicht in der Taxonomie zu haben. Von allen Befragten haben 22 % Ausschlusskriterien für Gaskraftwerke, was darauf schließen lässt, dass die meisten Investoren dem Gas eine gewisse Bedeutung für die Energiewende beimessen (insbesondere im Hinblick auf den Ausstieg aus der Kohle). Im Vergleich zu Gas sind Ausschlusskriterien für Kernkraftwerke verbreiteter (30 % der Befragten).
Schließlich sind grüne Anleihen, die die Stromerzeugung aus Kernkraft und Gas finanzieren, nicht unbedingt für alle Anleger ein "No-Go": Rund 45 % der Befragten würden eine grüne Anleihe kaufen, die Projekte zur Stromerzeugung aus Gas finanziert. 60 % der Befragten würden grüne Anleihen kaufen, die Projekte zur Stromerzeugung aus Kernenergie finanzieren.
Michaël Oblin, Fixed Income Analyst, DPAM
Gerrit Dubois, Responsible Investment Spezialist - DPAM
[1] Quelle: Barclays: "EU Taxonomy Survey on Nuclear and Gas", 27. März 2022, Andere Referenzen: "ESG - The Long View" - JP Morgan - 10/01/2022 , "Nuclear and Gas to be included in EU Taxonomy" - Morgan Stanley - 02/02/2022