Letzte Woche wurde bekannt, dass das US-BIP wieder so hoch ist wie vor der Pandemie. Die Wirtschaft hat sich doppelt so schnell erholt wie nach der internationalen Finanzkrise. Noch bemerkenswerter ist der Aufschwung aber angesichts der Tatsache, dass weltweit jeden Tag etwa eine halbe Million neuer Coronafälle gezählt werden – so viele wie zuletzt im Oktober 2020.
Schuld ist die Delta-Variante des Virus. Eine Rolle spielt aber auch die weltweit noch immer niedrige Zahl an Impfungen.
Die steigende Volatilität risikobehafteter Wertpapiere und die rekordniedrigen Realrenditen amerikanischer Staatsanleihen zeigen, dass immer mehr Investoren am Aufschwung zweifeln.
Strengere Kontaktbeschränkungen
Die Delta-Variante ist ansteckender. Anders als in der ersten Coronawelle verbreiten Infizierte beim Husten, Niesen oder Sprechen etwa 1.000-mal so viele Viruspartikel wie beim Wildtyp. Jeder Virusträger könnte im Schnitt etwa fünf Menschen anstecken und das Virus bei einem geringen Abstand schneller übertragen.
Erstmals wurde die Delta-Variante Ende letzten Jahres in Indien entdeckt. Heute entfällt auf sie in den meisten Ländern die Mehrzahl der Infektionen – und in Großbritannien fast alle. In den USA war die Delta-Variante bis Anfang März unbekannt, hat aber jetzt einen Anteil von über 80%. Jeden Tag kommen über 70.000 Fälle hinzu, und es werden immer mehr.
Die amerikanische Seuchenschutzbehörde CDC hat daraufhin ihre Meinung zu Masken geändert und empfiehlt sie in manchen Landesteilen auch Geimpften. Auf lokaler Ebene wird bisweilen über eine neue Maskenpflicht, Kontaktbeschränkungen und andere Restriktionen nachgedacht. Auch in Australien, Japan, Südkorea, Indonesien und Vietnam werden die Vorschriften wieder verschärft.
Unsicherheit
18 Monate nach Beginn der Pandemie wäre das sehr beunruhigend, hätten die Regionen, die neue Restriktionen erwägen – Teile der USA, Asiens und Australiens – nicht eines gemein: Hier wurde überall bisher nur wenig geimpft.
Dass das reale US-BIP trotz der anhaltenden Pandemie wieder so hoch ist wie vor Corona, liegt an der Wirksamkeit der Impfungen. Und sie ist auch der Grund dafür, dass der Internationale Währungsfonds seine Wachstumsprognose 2021 für die Industrieländer angehoben, für die Emerging Markets mit ihren niedrigen Impfquoten aber gesenkt hat.
Noch wissen wir nicht alles. Den Daten zufolge schützen die Impfungen zwar nur in 60% bis 70% aller Fälle vor einer Infektion mit der Delta-Variante, scheinen aber schwere Verläufe mit Krankenhauseinweisungen und Schlimmerem zu etwa 90% zu verhindern. In den USA sind zurzeit 97% der COVID-19-Patienten in den Krankenhäusern und 99,5% der Verstorbenen ungeimpft.
Testfall
Hier könnte Großbritannien zu einem sehr wichtigen Testfall werden.
In Großbritannien sind 88% aller Erwachsenen einmal und 71% vollständig geimpft. 95% der über 60-Jährigen haben bereits ihre zweite Impfung erhalten. Die Korrelation zwischen Inzidenz und Krankenhauseinweisungen scheint nachzulassen, wenn sie überhaupt noch existiert. Zuletzt wurden in Großbritannien täglich 35.000 bis 45.000 neue Fälle gezählt, fast so viele wie auf dem Höhepunkt der Krise im Winter. Damals lagen in den Krankenhäusern fast 40.000 Coronapatienten. Heute sind es kaum 6.000.
Letzte Woche kamen weitere ermutigende Nachrichten hinzu. Auch wenn die Wissenschaftler noch immer über die Gründe rätseln, ist die Sieben-Tage-Inzidenz vom letzten Höchststand am 18. Juli bis letzten Donnerstag um fast 40% gefallen. Das warme Wetter, Schulferien und die vielen Quarantäneaufforderungen an positiv Getestete könnten eine Rolle spielen. Nicht auszuschließen ist aber auch, dass der enorme Anstieg der Infektionen und der hohe Anteil Geimpfter für Herdenimmunität sorgen und das Virus zurückdrängen, mit sehr wenigen Krankenhauseinweisungen und Todesfällen. Aber ist Herdenimmunität überhaupt möglich?
In den USA könnte sie in einigen Monaten erreicht sein, wenn die Impfbereitschaft etwas steigt – was wegen der Furcht vor der Delta-Variante denkbar scheint – und sich die Neuinfektionen so entwickeln wie von der CDC prognostiziert. Wenn sie auf einen Höchststand von täglich 100.000 steigen und jeden Tag wieder über 750.000 Menschen geimpft werden, könnte es unserer Ansicht nach in drei bis vier Monaten so weit sein – wenn nicht früher.
Langsamer, aber stetiger Fortschritt
Die nächsten Tage werden entscheidend sein. Sie werden zeigen, welche Folgen die Aufhebung der Kontaktbeschränkungen in Großbritannien am 19. Juli hat – und was es bedeutet, dass letzte Woche die Grenze für geimpfte Europäer und Amerikaner geöffnet wurde. In Ländern mit hohen Impfquoten werden neue, wieder strengere Restriktionen zum Schutz der wenigen Impfverweigerer immer unwahrscheinlicher.
Wir glauben deshalb, dass hier der wirtschaftliche Neustart weitergeht, bei einer expansiven Geld- und Fiskalpolitik, und dass das BIP und die Unternehmensgewinne weiter steigen.
Dennoch bleiben große Risiken. Weltweit sind die Impfquoten noch immer niedrig, vor allem in den Emerging Markets, und die hoch ansteckende Delta-Variante scheint noch schwerer kontrollierbar. Es ist keineswegs auszuschließen, dass sich das Virus weiter verändert und eine neue Variante entsteht, gegen die die aktuellen Impfstoffe weniger wirken. Weltweit sollte daher so schnell wie möglich geimpft werden. Selbst in Ländern mit einem hohen Immunisierungsgrad könnten bald Auffrischungen nötig werden, zumindest für Ältere und Menschen mit einem eingeschränkten Immunsystem.
Dies sind einige der Gründe dafür, dass die Märkte in den letzten Wochen so unruhig waren, wie wir es auch in unserem jüngsten Asset Allocation Committee Outlook geschrieben haben. Wenn sich an den Bewertungen und der Unsicherheit nichts ändert, dürfte es dabei bleiben. Aus unserer Sicht gibt es aber klare Hinweise darauf, dass die Korrelation zwischen Fallzahlen und schweren Verläufen durch die Impfungen zurückgeht und die Herdenimmunität greifbar ist. Vielleicht lassen wir die Krise wirklich langsam, aber sicher hinter uns.
Joseph V. Amato, President and Chief Investment Officer, Equities, Neuberger Berman
Terri Towers, PhD, Senior Research Analyst, Healthcare, Neuberger Berman