"Die neuen Maßnahmen der EZB fielen erwartungsgemäß aus. Der Markt reagierte allerdings negativ: Die bei der heutigen Sitzung bekanntgegebene, eindeutige Änderung der EZB-Erwartungen hinsichtlich einer Leitzinserhöhung, deutet darauf hin, dass bei einer zukünftigen Sitzung mit einer noch stärkeren Reaktion der Zentralbank zu rechnen ist, falls sie mit einer weiter steigenden Inflationsrate konfrontiert wird. Ein Szenario, mit dem die EZB derzeit nicht rechnet, das aber von den meisten Ökonomen im Zuge der steigenden Energiepreise erwartet wird.
Die EZB-Maßnahmen haben nur geringe Auswirkungen auf den Inflationsanstieg, solange dieser auf die Importpreise zurückzuführen ist. Die EZB würde allerdings gern die Wirtschaftsakteure von ihrem Einsatz im Kampf gegen die Inflation überzeugen, um die Inflationserwartungen wieder bei zwei Prozent zu halten. Es ist äußerst wichtig, dass Privatanleger und Unternehmen ihre wirtschaftlichen Entscheidungen nicht auf der Grundlage höherer Inflationsprognosen treffen.
In Zeiten, in denen das deutsche Wirtschaftswachstum mit einem Plus von etwa acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr den höchsten Stand seit den 50er Jahren erreicht hat, hat der Kampf gegen die Inflation für die EZB Priorität. Sie liefert gleichzeitig ihre Wirtschaftsprognosen, die ein höheres Wachstum im Jahr 2024 zeigen. Das bedeutet, dass sie annimmt, ihre kommenden Zinserhöhungen würden das Wachstum nicht allzu sehr beeinträchtigen. Unserer Ansicht nach besteht jetzt ein Wachstumsrisiko, falls die Lohnerhöhungen zu weit hinter der Inflationsrate zurückbleiben oder darunter liegen. Ebenso besteht ein Wachstumsrisiko, wenn die EZB die Kosten unterschätzt, die der Wirtschaft durch einen schnellen Ausstieg aus den negativen Zinsen drohen."
Die neuen Maßnahmen dürften zu mehr Unsicherheiten und dann zu Marktvolatilität führen. Da der endgültige Leitzins derzeit bereits bei über zwei Prozent prognostiziert wird, werden wir unsere vorsichtige Haltung beibehalten und nur, mit Blick auf deren attraktive Renditen, damit beginnen, mittelfristige Anleihen von Staaten und Unternehmen kaufen.
Die EZB hat deutlich gemacht, dass sie 'bereit ist, alle ihre Instrumente flexibel anzupassen, um sicherzustellen, dass sich die Inflation mittelfristig bei ihrem Ziel von zwei Prozent stabilisiert'. Das bedeutet, dass das Ausmaß des Zinserhöhungszyklus nur von den Inflationsdaten abhängen dürfte. Ihre neue Inflationsprognose von zwei Prozent oder mehr in absehbarer Zukunft rechtfertigt den Anstieg der Leitzinsen bis mindestens zu einem neutralen Niveau, wobei eine größere Anhebung im September erwartet wird. Das weitere Vorgehen wird von der Entwicklung der Inflation abhängen."
Patrick Barbe, Head of European Investment Grade Fixed Income bei Neuberger Berman