Die EZB hat den Anlegern einen sehr verhaltenen Ausblick gegeben. Sie hat mitgeteilt, dass sie die Restriktivität ihrer Politik verringern wird, solange die drei Bedingungen – sinkende Kerninflation, Inflationsaussichten im Einklang mit dem Ziel und Stärke der geldpolitischen Transmission – erfüllt sind. Dies ist ein klares Signal dafür, dass sie den Leitzins im Juni höchstwahrscheinlich senken wird, solange es keine größeren unerwarteten Daten zu vermelden gibt. Darüber hinaus befindet sich der Leitzins in einem äußerst restriktiven Bereich, unabhängig davon, ob er in Relation zum nominalen R* oder zur Inflationsrate betrachtet wird. Die EZB könnte die Zinsen problemlos um 100 Basispunkte senken und immer noch sagen, dass sie sich in einem sehr restriktiven Bereich befindet. Ich glaube daher, dass wir in diesem Jahr eine Reihe von Zinssenkungen der EZB erleben werden und zwar in einer Größenordnung von 100 bis 125 Basispunkten.
Ich gehe davon aus, dass alle drei Bedingungen bereits bis zur Juni-Sitzung klar erfüllt sein werden. Die Dienstleistungsinflation dürfte im April aufgrund des traditionellen Effektes der Osterfeiertage sowohl im Jahres- als auch im Monatsvergleich zurückgehen. Die nächste Umfrage der EZB zur Kreditvergabe der Banken wird voraussichtlich einen weiteren Rückgang der Kreditnachfrage der Unternehmen zeigen. Auch die Inflationsprognose der EZB deutete bereits im März auf einen Rückgang hin. Allerdings war diese Prognose an die Bedingung geknüpft, dass die Inflationsrate bis 2024 auf 4,5 Prozent sinkt. Der Markt erwartet nun nur noch einen Rückgang um 3,2%, was mittelfristig zu einer noch deutlicheren Unterschreitung der Inflationsprognose der EZB führen würde.
Von Tomasz Wieladek, Chef-Volkswirt für Europa bei T. Rowe Price