ESG-Länderratings: No country for poor, sick and sad wo*man

Sozialer Wohlstand, Well-being, Zufriedenheit. Alles von hoher Bedeutung. So weit, so klar. Kein Konsens hingegen herrscht darüber, was diese Begrifflichkeiten tatsächlich beinhalten sollen bzw. müssen. Somit ist es schwierig, diese Aspekte auch in länderbezogenen ESG-Modellen tatsächlich aussagekräftig abzubilden Research | 31.10.2023 09:32 Uhr
Christian Loy, Head of Research, rfu / © rfu
Christian Loy, Head of Research, rfu / © rfu

Universelle soziale Bedürfnisse und deren Definitionen als Herausforderung für ESG-Länderratings

Eine Vereinfachung, vor allem wenn es um Zuschreibungen und Definitionen sozialer Aspekte geht, wird der Komplexität des Themas nicht gerecht. Eingängiges Beispiel dafür ist das BIP (Bruttoinlandsprodukt) als vermeintlicher Wohlstandsindikator: dieser wird trotz fundierter Kritik noch immer häufig als Maß aller Dinge verwendet. Beispielsweise scheint ab einem gewissen Niveau des BIP die Korrelation zur Zufriedenheit stark abzunehmen. Das BIP enthält keine Aussage darüber, wie fair Ressourcen in der Gesellschaft verteilt sind. In den vergangenen Jahrzehnten aber entstanden eine Vielzahl an Alternativkonzepten: der Human Development Index, der OECD Better Life Index, das Bruttonationalglück in Bhutan, der Happy Planet Index oder der Social Progress Indicator, um nur einige zu nennen. Hinter den meisten steckt der Versuch, das menschliche Wohlbefinden in Ländern zu messen und vergleichbar zu machen.

Innerhalb der drei Säulen der Nachhaltigkeit stellt die soziale Dimension aufgrund ihrer Komplexität und der Notwendigkeit, viele unterschiedliche qualitative Indikatoren einzubeziehen, die größte Herausforderung für ein ESG-Rating dar.

Sozialer Wohlstand – Bedürfnisse und Befähigung

Für das Ökologie-Rating des rfu-Ländermodell war es relativ einfach, ein theoretisches Fundament auszuwählen. Mit dem Planetary Boundaries-Konzept steht ein weit verbreiteter wissenschaftlicher Bezugsrahmen zur Verfügung. Für die soziale Sphäre hingegen ist es weit komplexer und es gibt eine Vielzahl an Zugängen. Zwei Strömungen können hier hervorgehoben werden: der Befähigungsansatz und die Bedürfnistheorie.

Der sogenannte Befähigungsansatz (capability approach) fokussiert auf Freiheit und Verwirklichungsmöglichkeiten als zentrale Faktoren. Prominente Vertretende sind Amartya Sen und Martha Nussbaumer. Innerhalb der Bedürfnistheorie haben sich unterschiedliche Ansätze entwickelt. Hier zählt Ian Gough zu einem der wichtigsten Akteure. In seiner "Human Need Theory" müssen Bedürfnisse befriedigt werden, damit Menschen sich überhaupt erst entfalten und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Hervorgehoben werden dabei Gesundheit und Autonomie. Es wird davon ausgegangen, dass Grundbedürfnisse universell und unabhängig von kulturellen Kontexten sind, im Gegensatz zu individuellen Wünschen.

Die wichtigsten sozialen Bedürfnisse

Bei der Entwicklung des rfu Staatenmodells fand eine Orientierung entlang der Bedürfnistheorie von Manfred Max-Neef (Formulierung von sieben Bedürfniskategorien) und die systemtheoretische Annäherung von Hartmut Bossel statt. Die Themen reichen von Existenz und Sicherheit, wo grundlegendste Bedürfnisse wie Gesundheit, Ernährung und körperliche Unversehrtheit erhoben werden, bis hin zu jenen universellen Bedürfnissen, die für das menschliche Gedeihen ebenfalls erforderlich sind, wie Wirksamkeit oder Koexistenz. Hierunter fallen Menschenrechte, Partizipationsmöglichkeiten, gleichberechtigte Zugänge oder das Nicht-Vorhandensein von Diskriminierung.

Um wichtige Aspekte an der Schnittstelle Ökologie und Soziales adressieren zu können, wurde das Themenfeld Umweltgerechtigkeit ergänzt.

rfu Social Rating Bedürfniskategorien

Quelle: rfu

Hinter den Bedürfniskategorien liegen 18 Themen, welche mit rund 60 qualitativen und quantitativen Indikatoren spezifiziert sind. Die darin enthaltenen Fragestellungen sind breit gefächert und reichen von: „Haben die Menschen Zugang zu ausreichender und gesunder Ernährung? Leben sie in sicheren und gleichwertigen Verhältnissen? Werden sie diskriminiert oder in ihren Grundrechten verletzt?“ bis hin zu: “Wie steht es um ihre psychische Gesundheit und ihr Wohlbefinden?“

„Je mehr, desto besser“ oder ein suffizientes, gutes Leben für alle?

Die Ergebnisse von ESG-Länderratingmodellen werden oft als eurozentristisch kritisiert. Auch im rfu Modell schneiden europäische Länder weit überdurchschnittlich hinsichtlich der individuellen Lebensqualität ab: Schweden, Norwegen, Finnland, Island, Schweiz und Dänemark belegen die ersten Plätze. Neben positiven Ausprägungen in vielen Bereichen, wie beispielsweise hohe Lebenserwartung, demokratische Rechte und Sicherheit, liegt ein Grund hierfür aber auch in methodischen Fragen rund um die Stillbarkeit und Wertigkeit von Bedürfnissen: Wie stehen Grundbedürfnisse und darüberhinausgehende Bedürfnisse zueinander? Wieviel ist genug?

Hier sehen bedürfnisorientierte Konzepte wichtige Unterschiede zu den Grundannahmen der klassischen Ökonomie. Menschliche Bedürfnisse werden als stillbar, aber nicht substituierbar charakterisiert. Das heißt, wenn diese Bedürfnisse nicht befriedigt werden, schadet dies der Person ernsthaft, da es sie daran hindert, am sozialen Leben teilzunehmen. Im Gegensatz dazu wird einer Bedürfnisbefriedigung, die weit über einen Schwellenwert hinausgeht, wenig Bedeutung beigemessen. Ob ein Menschen 3500 Kalorien zu sich nimmt oder nur 3200 ist irrelevant. Wichtig ist, dass der Schwellenwert von 2700 erreicht ist. Damit wird der Grundgedanke „je mehr, desto besser" - der vielen Modellen zu Grunde liegt - zumindest in Frage gestellt. Als Verteilungsprinzip wird auf Suffizienz fokussiert und stellt damit einen gewissen Gegenentwurf zu individuellen Konsumpräferenzen als Steuerungsinstrument dar.

Das rfu Modell versucht beide Perspektiven methodisch zu integrieren. Dazu wird bei allen Indikatoren bei der Definition von Bewertungskriterien auch folgende Frage gestellt: Für welchen Anteil der Bevölkerung sind wesentliche Grundbedürfnisse befriedigt?

Die Universität Leeds hat in ihrem Projekt "A Good Life For All Within Planetary Boundaries" eine Darstellungsform gefunden, um definierte Grundbedürfnisse und planetare Grenzen übersichtlich in Relation zu setzen.

Gesellschaftliche Organisation von Bedürfnissen

Eine Reduktion auf (zu) wenige oder simplifizierte Indikatoren kann kaum abbilden, was es für ein gutes Leben braucht - vor allem wenn mentales Wohlbefinden berücksichtigt werden soll. Ein Sammelsurium an Indikatoren kann dazu führen, dass das Wesentliche aus den Augen verloren wird. Für den politischen Kontext wäre ein gesellschaftspolitischer Diskurs und eine demokratische Aushandlung über Grundbedürfnisse essenziell.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung in Bedürfnisse (needs) und Bedürfnisbefriedigern (satisfiers). Im rfu Modell liegt der Schwerpunkt der sozialen Sphäre auf dem Wohlbefinden der Individuen. Ein eigenes Themenfeld ist die Organisation der Bedürfnisbefriedigung, vor allem durch die dahinterliegenden gesellschaftlichen Strukturen mit staatlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Institutionen. Diese stellen grundlegende Dienstleistungen und Infrastruktur in unterschiedlicher Qualität zur Verfügung (oder nicht). Diese kann je nach lokalem und kulturellem Kontext teils sehr unterschiedlich erfolgen. Diese Fragen sind der Schwerpunkt unseres Ökonomie Rating, das wir ein anderes Mal genauer darstellen werden.

Mehr Allgemeines über das rfu Nachhaltigkeitsrating für Staaten finden Sie in unserem GOING GREEN Artikel.

Über die rfu:

Die rfu, mit Sitz in Wien, ist Österreichs Spezialistin für Nachhaltiges Investment und Management und unterstützt institutionelle Kunden mit Nachhaltigkeits-Research und der Konzeption von Investmentprodukten. „Technologisches Herz" sind die rfu Nachhaltigkeitsmodelle für Unternehmen, Länder und Rohstoffe.

Weitere Leistungen sind u.a. die Erstellung von Prüfgutachten nach dem Österreichischen Umweltzeichen sowie Second Party Opinions zur Emission von Green und Social Bonds.

Weitere Informationen finden Sie auf www.rfu.at

Über die Artikelserie "GOING GREEN":
GOING GREEN ist eine monatliche Kolumne auf e-fundresearch.com zu Entwicklungen und Hintergründen im nachhaltigen Investment, verfasst von Reinhard Friesenbichler und seinen Kolleginnen und Kollegen aus der rfu.

Performanceergebnisse der Vergangenheit lassen keine Rückschlüsse auf die zukünftige Entwicklung eines Investmentfonds oder Wertpapiers zu. Wert und Rendite einer Anlage in Fonds oder Wertpapieren können steigen oder fallen. Anleger können gegebenenfalls nur weniger als das investierte Kapital ausgezahlt bekommen. Auch Währungsschwankungen können das Investment beeinflussen. Beachten Sie die Vorschriften für Werbung und Angebot von Anteilen im InvFG 2011 §128 ff. Die Informationen auf www.e-fundresearch.com repräsentieren keine Empfehlungen für den Kauf, Verkauf oder das Halten von Wertpapieren, Fonds oder sonstigen Vermögensgegenständen. Die Informationen des Internetauftritts der e-fundresearch.com AG wurden sorgfältig erstellt. Dennoch kann es zu unbeabsichtigt fehlerhaften Darstellungen kommen. Eine Haftung oder Garantie für die Aktualität, Richtigkeit und Vollständigkeit der zur Verfügung gestellten Informationen kann daher nicht übernommen werden. Gleiches gilt auch für alle anderen Websites, auf die mittels Hyperlink verwiesen wird. Die e-fundresearch.com AG lehnt jegliche Haftung für unmittelbare, konkrete oder sonstige Schäden ab, die im Zusammenhang mit den angebotenen oder sonstigen verfügbaren Informationen entstehen.
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