Economics Forum | EZB-Zinserhöhungen ab Juli? Expert:innen kommentieren die Lage
Die Inflation greift mittlerweile wild um sich. Die offiziellen Stellen vermelden Inflationsraten auf absoluten Rekordhochs. In Europa nähert sich die Teuerungsrate sogar der 8-Prozent-Marke. Doch ist der Euroraum tatsächlich bereit für EZB-Zinserhöhungen? Wie aggressiv wird der Zinserhöhungszyklus aussehen? Drohen dadurch neuerliche Staatsschulden-Krisen in Südeuropa? Lesen Sie in der aktuellen Ausgabe des e-fundresearch.com "Economics Forum" exklusiv die Einschätzungen von führenden Ökonom:innen & Marktstrateg:innen.
Markets
| 31.05.2022 13:00 Uhr
Archiv-Beitrag: Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Weltweit reagieren Zentralbanken zunehmend auf die hohen Inflationsraten. Während man anfänglich noch davon ausging, dass es nur ein vorübergehendes Phänomen sei, so wurden die Einschätzungen durch den unerwarteten Angriffs-Krieg in der Ukraine und der damit verbundenen Energie- und Lebensmittelkrise völlig auf den Kopf gestellt.
Die Fed hatte schon Anfang dieses Jahres die Zinswende eingeläutet. Auch die Bank of England zog nach und fing an die Zinsen wieder zu erhöhen. Nur die Europäische Zentralbank zögerte bislang noch und hat bis dato keine Zinsschritte durchgeführt. Doch die Situation lässt der EZB-Präsidentin Christine Lagarde mittlerweile kaum Optionen offen. Die EZB muss reagieren, um die Inflation wieder unter Kontrolle zu bekommen. Jetzt könnten die ersten Zinsschritte bereits im Sommer erfolgen.
Ist der Euroraum wirklich bereit für EZB-Zinserhöhungen? Wie aggressiv wird der Zinserhöhungszyklus aussehen? Wird es dadurch neuerlich zu Staatsschulden-Krisen in Südeuropa kommen? Um Investoren einen effizienten Überblick verschiedenster Sichtweisen und Einschätzungen zu den Auswirkungen der hohen Inflation, dem bisher ausgebliebenen Handeln der EZB sowie den Effekten der möglichen Zinsschritte zu geben, hat e-fundresearch.com Ökonom:innen & Strateg:innen aus der Asset Management Industrie mit folgender Fragestellung kontaktiert:
Economics Forum - Fragestellung des Monats
Ist eine EZB-Zinserhöhung im Juli (nach dem Ende der Anleihenkäufe) Ihrer Meinung nach tatsächlich realistisch? In welchem Ausmaß könnte es dadurch neuerlich zu Staatsschulden-Krisen in den südeuropäischen Ländern kommen? Wieso wurde die Inflation von der EZB derart unterschätzt? Welche Höhe werden die Zinsschritte haben?
Alle erhaltenen Experten-Statements haben wir Ihnen in der nachfolgenden Zitatgalerie aufbereitet:
Zum Navigieren innerhalb der Zitatgalerie können auch die Pfeiltasten ← → eingesetzt werden, auf Mobilgeräten können Sie nach belieben "swipen"/"wischen":
Axel Angermann, Chef-Volkswirt, FERI
Die EZB wird im Juli eine erste Anhebung sowohl der (negativen) Einlagenzinsen als auch des Leitzinses vornehmen und dem in den Monaten danach weitere Zinsschritte von jeweils 25 Basispunkten folgen lassen. Mit dem nun doch recht forschen Einstieg in die geldpolitische Straffung versucht die EZB, ihre kapitale Fehleinschätzung der Inflationsentwicklung bis zum Beginn dieses Jahres zu korrigieren. Ob sie an den Märkten neue Kredibilität gewinnt, wird auch davon abhängen, ob Frau Lagarde die geldpolitische Vorgehensweise nachvollziehbar kommunizieren und vor allem den zuletzt recht vielstimmigen Chor der Ratsmitglieder auf ein gemeinsames Liedblatt verpflichten kann. Ungemach droht mit Blick auf die Renditeentwicklung italienischer Staatsanleihen: Das Ende der Anleihekäufe könnte zu neuen Attacken gegen Italien einladen. Allerdings müssten die Zinsen mindestens um weitere 300 Basispunkte stiegen, bis sich die Lage der Staatsfinanzen tatsächlich spürbar verschlechtert.
Philipp Emanuel Eisel, Geschäftsführer, EE Capital Management
Einen nachhaltigen Zinsanhebungszyklus halten wir für unwahrscheinlich. Entwicklungen in China, fallende Märkte (negativer Vermögenseffekt), Margendruck bei Unternehmen (höhere Lohn-, Zins-, und Materialkosten), und die Inflation selbst, wirken bereits restriktiv auf Wirtschaft und Inflation. Anders als zuvor wurden Maßnahmen der Notenbanken in Folge der Pandemie durch massive Fiskalmaßnahmen begleitet, deren Wirkung in Kombination mit Lieferengpässen, Fed & EZB unterschätzten. Nach einer zu lange andauernden expansiven Politik werden EZB & insb. die Fed ihre restriktiven Pläne unserer Ansicht nach nicht umsetzen können. Schwächeres GDP-Wachstum wird Steuereinnahmen belasten, sodass den Notenbanken kaum eine andere Wahl bleibt als bei weiter steigenden Zins-Risikoaufschlägen (Euro-Peripherie-Staaten) erneut expansive Maßnahmen einzuleiten. Turbulenzen an den Kapitalmärkten werden sie vsl. dazu zwingen. Wir erwarten aus heutiger Sicht max. vier 0,25%-Zinsschritten der EZB bis 04/23.
Gabriel Panzenböck, Fondsmanager im Team "Rates & FX", Raiffeisen Kapitalanlage-Gesellschaft m.b.H.
Die EZB hat mittlerweile klar gestellt, die Politik eines negativen Leitzinses im dritten Quartal beenden zu wollen. Wir erwarten entsprechend zwei Zinsanhebungen zu je 0,25 % in der Juli- und Septembersitzung. Eine weitere Anhebung um 0,25 % erscheint uns für das vierte Quartal plausibel.
Die langfristigen Inflationserwartungen stellen den wichtigsten Kontext für diese Schritte dar. Diese lagen in den letzten Jahren spürbar unter dem langfristigen EZB-Ziel von zwei Prozent. Vielen Akteuren erschien ein „japanisches“,
deflationäres Szenario als am Wahrscheinlichsten für die Eurozone.
Mittelfristig denken wir, dass der weitere geldpolitische Pfad von der Lohnentwicklung bestimmt sein wird. Bislang sehen wir in diesem Bereich nur eine verhaltene Dynamik.
Für die Staaten mit höheren Verschuldungsquoten sind höhere Leitzinsen nicht unmittelbar ein Problem, da die meisten Länder die durchschnittliche Laufzeit der Schulden zu tiefen Zinsen verlängerten.
Willem Verhagen, Senior Economist, NN Investment Partners
Ich halte eine erste Zinserhöhung im Juli für wahrscheinlich, da Präsidentin Lagarde das Ende der Negativzinsen bis Ende von Q3 quasi schon angekündigt hat. Wir erwarten daher eine Zinserhöhung um 25 Basispunkte im Juli, eine weitere im September. Für Q4 rechnen wir mit einer Anhebung um 25 Basispunkte. Auch wenn wir 2023 vielleicht noch ein oder zwei weitere Zinserhöhungen erleben werden, glauben wir, dass die EZB ihre Geldpolitik letztlich deutlich weniger straffen wird, als der Markt derzeit einpreist. Eine Straffung durch die EZB könnte zu einer erheblichen Ausweitung der peripheren Spreads führen. Der Effekt ist derselbe wie in den Schwellenländern, wenn deren Finanzierungskosten in US-Dollar steigen: Die Nettokapitalabflüsse aus den Schwellenländern nehmen dann tendenziell zu.
Der Grund für die Unterschätzung der EWU-Inflation liegt darin, dass die Lieferengpässe und der starke Anstieg der Rohstoffpreise aufgrund des Ukraine-Konflikts im Grunde nicht vorhersehbar waren.
Gergely Majoros, Portfolio Advisor and Member of the Investment Committee, Carmignac
Man kann wohl davon ausgehen, dass die EZB die vom Markt für 2022 eingepreisten Zinserhöhungen vornehmen wird. Für 2023 sind die Inflationsdynamik, der Zustand der europäischen Wirtschaft und damit das Ausmaß der erforderlichen zusätzlichen Straffung weitaus weniger gut absehbar. Tatsächlich wird die Inflation als entscheidender Faktor darauf Einfluss nehmen, ob der heute erwartete Zinszyklus, mit einem Endsatz von nahezu 1,5% Ende 2023, zu hoch oder zu niedrig ausfallen wird.
Die Anfälligkeit der verschuldeten Länder hängt stark von den Aussichten für ihr nominales BIP-Wachstum ab. Insofern hat sich das Umfeld deutlich verändert, sowohl was das reale BIP-Wachstum als auch die Inflationsdynamik betrifft. Sollten sich die Spreads für Peripherieländer wie Italien gegenüber dem heutigen Stand deutlich ausweiten, wird die EZB wahrscheinlich einen neuen Mechanismus finden müssen, um die Spreads auf einem akzeptablen Niveau zu stabilisieren.
Andy Burgess, Fixed Income Investment Specialist, Insight Investment
Die EZB-Sitzung im Juli ist ein realistischer Termin für die erste Zinserhöhung, wobei die Zinssätze wahrscheinlich schrittweise auf 1 % bis 1,25 % im Jahr 2023 angehoben werden.
Die Finanzierungskosten für kleinere Länder werden im Laufe der Zeit steigen, aber die gemeinsame Emission von EU-Anleihen hat einen starken Präzedenzfall geschaffen und könnte zur Bewältigung künftiger Krisen leicht erweitert werden. Eine pro-europäische Koalition in Deutschland und die Wiederwahl von Präsident Macron sind auch ein Trost dafür, dass das deutsch-französische Bündnis intakt bleibt.
Wahrscheinlich hat die ganze Welt die Inflation unterschätzt. Die Federal Reserve und die Bank of England stehen vor einer schwierigeren Aufgabe als die EZB, die Inflation wieder auf das Zielniveau zu bringen. Die Kerninflation ist in der Eurozone deutlich niedriger als anderswo, und obwohl der Lohndruck zunimmt, geht er von einer niedrigeren Basis aus.
Florian Ielpo, Head of Macro, Lombard Odier Investment Managers
Wir erwarten eher früher als später eine Zinserhöhung durch die EZB. Die jüngsten Messwerte einer Vielzahl von Wirtschaftsindikatoren deuten noch immer nicht auf eine Rezession hin, während die Inflation weiterhin hoch ist. Die EZB muss jetzt die Inflation bekämpfen, und es wird eine ziemliche Zeit brauchen, bis sich die monetären Bedingungen in Europa auf das Wachstum und die Inflation auswirken.
Der Krieg in der Ukraine verursacht in der Eurozone einen stärkeren Rohstoffschock als in den USA, was die Region unter Wachstumsgesichtspunkten anfälliger macht.
Die derzeitige Inflation ist das Ergebnis einer temporären Versorgungsstörung. Dieser Nachfrageschock hat zu einer Inflationsexplosion geführt. Die Märkte gehen derzeit davon aus, dass die EZB die Zinssätze um bis zu 50 Basispunkte anheben könnte. Wir denken, dass der Markt sich irrt und die Anzahl der erforderlichen Zinserhöhungen unterschätzt. Angesichts der nach wie vor starken Wachstumsdynamik würde uns ein Leitzins in der Größenordnung von 1,5 % nicht überraschen.
Olivier de Berranger, Chief Investment Officer, LFDE
Es besteht kein Zweifel, dass die EZB im Juni das Ende des Anleihekaufprogramms ankündigen und im Juli die Zinsen um 25 Basispunkte anheben wird. Auch 50 Basispunkte sind nicht völlig ausgeschlossen. Der Markt hat sich auf einen solchen Schritt vorbereitet, die langfristigen Zinssätze steigen seit September letzten Jahres stetig. Die 10-jährige Bundrendite ist von -0,50 auf mehr als 1 % gestiegen, die Rendite 10-jähriger italienischer Staatsanleihen (BTP) von 0,50 auf 3,0 %. Der langfristige Teil der europäischen Renditekurve rechnet also bereits damit, dass die Inflation anhalten wird und die EZB zum Handeln gezwungen ist. Diese Niveaus sind auch keineswegs bedrohlich für die Solvabilität der südlichen Länder. Natürlich ist die Position der EZB aufgrund der importierten Inflation in der Eurozone, hauptsächlich durch die gestiegenen Lebensmittel- und Energiepreise, nicht einfach. Doch die Negativzinspolitik zu beenden, mit der wir seit Mitte 2014 leben, hat Priorität.
Nach einer langen Phase einer sehr lockeren Geldpolitik normalisiert die EZB die geldpolitischen Rahmenbedingungen. Eine höhere und umfassendere Inflation veranlasst die EZB, restriktiver und früher als erwartet zu handeln.
Wir glauben, dass die EZB einen gewissen Spielraum hat, um die Zinssätze in Richtung eines normaleren Niveaus zu erhöhen. Ein aggressiver Erhöhungszyklus scheint aber unwahrscheinlich. Für die Eurozone halten wir ein Stagflationsszenario am wahrscheinlichsten. Das Wirtschaftswachstum in der Eurozone ist nur mäßig und die verschuldeten Länder können viel höhere Zinsen einfach nicht verkraften.
Wenn die mittelfristigen Inflationserwartungen nicht außer Kontrolle geraten, erwarten wir eine allmähliche Straffung mit Anhebungen von 25 Basispunkten. Dennoch gehen wir davon aus, dass die Realzinsen auf absehbare Zeit negativ bleiben werden.
Paul Jackson, Global Head of Asset Allocation Research, Invesco
Da die Inflation in Deutschland im Mai 7,9 % erreichte, scheint es unvermeidlich, dass die EZB im Juni oder Juli eine erste Zinserhöhung vornehmen wird, wohl von 25 Basispunkten. Da sie das Inflationsrisiko unterschätzt hat, will sie ihre Stützungsmaßnahmen rasch zurückfahren. Ich denke, dass die Zentralbanken die Inflation unterschätzt haben, zum einen, weil sie darauf konditioniert wurden, eine niedrige Inflation zu erwarten, zum anderen, weil sie die wirtschaftliche Erholung unterschätzt haben und zum dritten, weil sie nicht in der Lage sind, die Auswirkungen der Unterbrechung der Lieferkette vorherzusagen.
Das Risiko für die EZB besteht darin, dass sie die Straffung genau zu dem Zeitpunkt vornimmt, zu dem die Eurozone aufgrund des Wegfalls der Exportmärkte in Russland und der drückenden Wirkung der höheren Energie- und Lebensmittelpreise von einer Rezession bedroht ist. Höhere Zinssätze könnten die Verlangsamung verstärken, aber angesichts des niedrigen Zinsniveaus bezweifle ich, dass sie schon jetzt eine Rolle spielen werden.
Pietro Baffico, European Economist, abrdn
Der politische Fehltritt von 2011, die Deflationsrisiken der Vergangenheit, die umfangreichen geldpolitischen Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und die Änderungen des Inflationsziels haben die EZB zu einer lockeren Haltung veranlasst und ihre Inflationstoleranz erhöht. Während die anhaltenden Versorgungsunterbrechungen die Bedenken noch verstärkten, versetzte die Invasion in der Ukraine den endgültigen Schlag, der die Preise in historische Höhen trieb.
Wir erwarten, dass die EZB die Zinsen im Juli, September und Dezember um 25 Basispunkte anheben wird. Der geldpolitische Ausblick für 2023 trübt sich ein, da die Wirtschaft mit einem schwächeren globalen Umfeld und Rezessionsrisiken zu kämpfen hat. Wirtschaftliche Abschwünge werden die Anleger auch dazu veranlassen, unterschiedliche Risiken zwischen den europäischen Staaten einzupreisen, was zu einer Ausweitung der Renditespannen bei Anleihen führt und die EZB schliesslich dazu zwingt, gegen Fragmentierungsrisiken zu intervenieren.
Die EZB wird die Zinssätze wahrscheinlich im Juli anheben. In einem ungewöhnlichen Schritt hat EZB-Präsidentin Lagarde die kurzfristigen Pläne der Zentralbank für die Geldpolitik erläutert und damit den Beginn des Zinserhöhungszyklus der EZB im Juli bestätigt. Sie deutete auch an, dass die EZB bei jeder weiteren Sitzung in diesem Jahr Zinserhöhungen von 25 Basispunkten vorsieht, so dass der Leitzins zum Jahresende leicht im positiven Bereich liegen wird.
Insgesamt ist es sinnvoll, dass die EZB den Weg der schrittweisen Normalisierung einschlägt. Die jüngsten Daten deuten darauf hin, dass sich der Aufschwung in den letzten Monaten trotz des Schocks durch den Krieg in der Ukraine fortgesetzt hat.
Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass der Straffungszyklus der EZB reibungslos abläuft. Der Ausstieg aus den Negativzinsen ist ein relativ leicht zu erreichendes Ziel – durch den Abwärtsdruck auf die Währung ist der negative Depozins unter den derzeitigen Umständen eher kontraproduktiv.
Katharine Neiss, Chief European Economist, PGIM Fixed Income
Die Inflation im Euroraum ist deutlich höher als erwartet. Das liegt vor allem an dem unerwarteten Inflationsschock aufgrund höherer Energiepreise als Folge der aktuellen geopolitischen Turbulenzen. Die solide Konjunktur zu Jahresbeginn ermöglichte es der EZB, eine Umstellung ihrer Politik vorzubereiten, um die Ankäufe von Vermögenswerten zu beenden und Zinsen anzuheben. Offen bleibt jedoch, wie weit die Zinsen über 0 % steigen werden. Dies wird davon abhängen, wie sich die Daten zum Jahresende entwickeln werden. Wenn die wirtschaftliche Entwicklung des Euroraums bis ins neue Jahr hinein anhält und das nominale Lohnwachstum anzieht, könnte dies einen aggressiveren geldpolitischen Kurs rechtfertigen, wie er derzeit von den Märkten antizipiert wird. Sollte sich das Wachstum abschwächen und die Nettolöhne niedrig bleiben, dürften die Zinserhöhungen deutlich unter 1 % liegen. Höhere Energiepreise, Chinas Konjunkturabschwächung und restriktivere Finanzbedingungen machen Letzteres wahrscheinlicher.
Christopher Jeffrey, Head of Inflation and Rates Strategy, Legal & General Investment Management
Unserer Einschätzung nach wird eine Anhebung im Juli allgemein erwartet: 25 Basispunkte sind zu mehr als 100% eingepreist, alles andere wäre nach Christine Lagardes jüngstem Blogbeitrag eine große Überraschung. Schließlich hat die EZB besonderes Augenmerk auf die Inflationsgefahr. Das Argument, die südeuropäischen Länder könnten durch Zinserhöhungen in den Bankrott getrieben werden, ist unserer Meinung nach nicht stichhaltig. Höhere Finanzierungskosten üben zwar in der Regel Druck auf die langfristigen Schuldenprognosen aus, aber für ein ernsthaftes Refinanzierungsproblem wären größere Steigerungen als die erwarteten nötig. Die unerwartet hohe Inflation ist ein weltweites Phänomen, ausgelöst von den Folgen der Pandemie, einer lockeren Geld- und Fiskalpolitik und dem Rohstoffpreisschock nach der russischen Invasion der Ukraine. Wir gehen davon aus, dass die Zinsen im Juli um 25 Basispunkte angehoben werden, gefolgt von drei weiteren Anhebungen bis zum Jahresende.
François Rimeu, Senior Strategist, La Française AM
Die EZB-Mitglieder haben sich relativ klar geäußert. Ja, sie werden die Anleihekäufe Ende Juni einstellen, und ja, sie werden die Zinsen im Juli und September anheben, voraussichtlich um je 25 Basispunkte. Die einflussreichsten EZB-Mitglieder haben kürzlich bekräftigt, die quantitative Lockerung (QE) zu beenden und den Einlagensatz wieder anzuheben.
Die Finanzmärkte haben sich vor allem in Europa an QE gewöhnt. Es ist ungewiss, wie sich die Schulden der Peripherieländer entwickeln werden, wenn die EZB ihr Kaufprogramm einstellt. Werden wir eine deutliche Ausweitung der Spreads erleben? Das ist möglich und deshalb bewerten wir Peripherieanleihen nicht positiv. Wir halten einen Zahlungsausfall jedoch für unwahrscheinlich, solange die einzelnen Länder gewillt sind, in der Eurozone zu bleiben.
Die Unterschätzung der Inflation durch die EZB ist eine Folge des Russland-Ukraine-Krieges und des Zweitrundeneffekts durch die steigenden Energiepreise.
Wir sehen den Leitzins der EZB am Ende bei 1 %.
Wolfgang Bauer, Fondsmanager im Public Fixed Income Team, M&G Investments
Eine Zinserhöhung hätte vor allem Symbolkraft. Die Zinsen auch bei der momentanen Inflationsrate auf ihrem historischen Tiefstand zu belassen, wäre nur schwer vermittelbar. Hier geht es letztendlich um die Glaubwürdigkeit der EZB, die ja ohnehin in der Kritik steht, nicht rechtzeitig gegengesteuert zu haben. Im Nachhinein ist es natürlich sehr leicht zu fragen, warum die Geldmarktpolitik nicht schon früher gestrafft wurde. Aber aufgrund der komplexen Datenanlage in der Pandemiezeit, für die es keinerlei geldpolitische Blaupause gab, sollte man mit allzu harter Kritik an der EZB vorsichtig sein.
Ein Zinsschritt wäre auch im Hinblick auf die Staatsfinanzen der südeuropäischen Euro-Länder zu verkraften. Die Basiszinssätze würden sich auch weiterhin am unteren Rand der historichen Skala bewegen. Sollten die Risikoaufschlagsprämien sich im Jahresverlauf stark weiten und die Refinanzierungskosten deutlich erhöhen, dann würde die EZB wohl wieder aktiv werden, etwa durch gezielte Anleihekäufe.
Jörg Angelé, Senior Economist, Bantleon AG
Durch ihre beharrliche Fehleinschätzung von Dauer und Ausmass des Inflationsschubs hat sich die EZB in eine missliche Lage manövriert. Zum einen muss sie nun beinahe überstürzt die Zinsen anheben. Zum anderen hat sie erheblich an Glaubwürdigkeit verloren. Inzwischen ist auch den Währungshütern klar, dass sich die Teuerung in den nächsten Jahren oberhalb des Notenbankziels festsetzen wird. EZB-Präsidentin Lagarde hat für Juli und September daher zwei Zinsanhebungen à 25 Bp in Aussicht gestellt. Wir gehen davon aus, dass weitere Schritt um je 25 Bp folgen, bis die Leitzinsen etwa 2,0% erreicht haben. Eine Gefahr für die Schuldentragfähigkeit einzelner Euroländer ergibt sich daraus jedoch nicht. Erstens liegen die Renditen selbst am langen Ende aktuell nur etwa 50 Bp oberhalb des durchschnittlichen Zinssatzes, den zum Beispiel Italien auf seine ausstehenden Staatsschulden bezahlen muss. Zweitens hilft die enorm hohe Inflation, die Defizite zu verringern und die Schuldenstände zu drücken.
Unserer Meinung nach wird sich die EZB der Fed anschließen und die Zinsen ab Juli wieder in den positiven Bereich anheben. Dies sollte für Spielraum sorgen, wenn sich die hohen Energiekosten auf Verbraucher und Unternehmen auswirken. Der US-Einkaufsmanagerindex – ohne Einzelhandel – ließ zuletzt auf ein anhaltendes Wirtschaftswachstum schließen. In Deutschland weist der aktuelle Geschäftsklimaindex ebenfalls auf Optimismus hin und liegt höher als während der Euro-Staatsschuldenkrise. Das wird die EZB bei ihrer Zinserhöhung im Juli trösten.
An den Märkten erwarten wir steigende Anleiherenditen und eine Verflachung der Kurven. Die wichtigste Frage: Was wird die EZB tun, um steigende Renditen in der Euro-Peripherie einzudämmen, wenn sich die finanziellen Bedingungen verschärfen? Die Reaktion dieser Anleihen macht die geldpolitische Aufgabe der EZB komplizierter. Wir glauben aber, dass sie auf die Risiken der Peripherie achten wird - daher die anhaltende Betonung der Flexibilität.
Bethany Payne, Global Bonds Portfolio Manager, Janus Henderson Investors
Nach dem schnelleren Ausstieg aus dem APP kann die EZB im Juli – wir erwarten eine Anhebung von 25 Basispunkten und eine im September - nahtlos vom Gas- zum Bremspedal wechseln. Der Ukrainekrieg hat die Lage verändert. Er hat zu einer langanhaltenden Inflation geführt und die Aussichten auf einen Aufschwung verringert.
Die Länder in Europa nahmen während der Pandemie viele Kredite auf. Ihre Schulden stiegen bis 2021 auf $14 Bio – ein Anstieg von 8,7 % im Jahresvergleich bei konstanten Wechselkursen. In Deutschland stieg die Schuldenlast um 14,7 % – fast doppelt so stark wie der weltweite Durchschnitt. Jedoch ist die Pro-Kopf-Verschuldung in Deutschland mit $28.042 immer noch relativ niedrig im Vergleich zu Italien ($45.079) und Irland ($47.320).
Der Anstieg der europäischen Anleiherenditen erscheint alarmierend, da die schwächeren Volkswirtschaften eine höhere Schulden- und Zinslast zu tragen haben. Die Kosten für die europäischen Steuerzahler sind jedoch nach wie vor sehr gering.
Axel Angermann, Chef-Volkswirt, FERI
Die EZB wird im Juli eine erste Anhebung sowohl der (negativen) Einlagenzinsen als auch des Leitzinses vornehmen und dem in den Monaten danach weitere Zinsschritte von jeweils 25 Basispunkten folgen lassen. Mit dem nun doch recht forschen Einstieg in die geldpolitische Straffung versucht die EZB, ihre kapitale Fehleinschätzung der Inflationsentwicklung bis zum Beginn dieses Jahres zu korrigieren. Ob sie an den Märkten neue Kredibilität gewinnt, wird auch davon abhängen, ob Frau Lagarde die geldpolitische Vorgehensweise nachvollziehbar kommunizieren und vor allem den zuletzt recht vielstimmigen Chor der Ratsmitglieder auf ein gemeinsames Liedblatt verpflichten kann. Ungemach droht mit Blick auf die Renditeentwicklung italienischer Staatsanleihen: Das Ende der Anleihekäufe könnte zu neuen Attacken gegen Italien einladen. Allerdings müssten die Zinsen mindestens um weitere 300 Basispunkte stiegen, bis sich die Lage der Staatsfinanzen tatsächlich spürbar verschlechtert.
Philipp Emanuel Eisel, Geschäftsführer, EE Capital Management
Einen nachhaltigen Zinsanhebungszyklus halten wir für unwahrscheinlich. Entwicklungen in China, fallende Märkte (negativer Vermögenseffekt), Margendruck bei Unternehmen (höhere Lohn-, Zins-, und Materialkosten), und die Inflation selbst, wirken bereits restriktiv auf Wirtschaft und Inflation. Anders als zuvor wurden Maßnahmen der Notenbanken in Folge der Pandemie durch massive Fiskalmaßnahmen begleitet, deren Wirkung in Kombination mit Lieferengpässen, Fed & EZB unterschätzten. Nach einer zu lange andauernden expansiven Politik werden EZB & insb. die Fed ihre restriktiven Pläne unserer Ansicht nach nicht umsetzen können. Schwächeres GDP-Wachstum wird Steuereinnahmen belasten, sodass den Notenbanken kaum eine andere Wahl bleibt als bei weiter steigenden Zins-Risikoaufschlägen (Euro-Peripherie-Staaten) erneut expansive Maßnahmen einzuleiten. Turbulenzen an den Kapitalmärkten werden sie vsl. dazu zwingen. Wir erwarten aus heutiger Sicht max. vier 0,25%-Zinsschritten der EZB bis 04/23.
Gabriel Panzenböck, Fondsmanager im Team "Rates & FX", Raiffeisen Kapitalanlage-Gesellschaft m.b.H.
Die EZB hat mittlerweile klar gestellt, die Politik eines negativen Leitzinses im dritten Quartal beenden zu wollen. Wir erwarten entsprechend zwei Zinsanhebungen zu je 0,25 % in der Juli- und Septembersitzung. Eine weitere Anhebung um 0,25 % erscheint uns für das vierte Quartal plausibel.
Die langfristigen Inflationserwartungen stellen den wichtigsten Kontext für diese Schritte dar. Diese lagen in den letzten Jahren spürbar unter dem langfristigen EZB-Ziel von zwei Prozent. Vielen Akteuren erschien ein „japanisches“,
deflationäres Szenario als am Wahrscheinlichsten für die Eurozone.
Mittelfristig denken wir, dass der weitere geldpolitische Pfad von der Lohnentwicklung bestimmt sein wird. Bislang sehen wir in diesem Bereich nur eine verhaltene Dynamik.
Für die Staaten mit höheren Verschuldungsquoten sind höhere Leitzinsen nicht unmittelbar ein Problem, da die meisten Länder die durchschnittliche Laufzeit der Schulden zu tiefen Zinsen verlängerten.
Willem Verhagen, Senior Economist, NN Investment Partners
Ich halte eine erste Zinserhöhung im Juli für wahrscheinlich, da Präsidentin Lagarde das Ende der Negativzinsen bis Ende von Q3 quasi schon angekündigt hat. Wir erwarten daher eine Zinserhöhung um 25 Basispunkte im Juli, eine weitere im September. Für Q4 rechnen wir mit einer Anhebung um 25 Basispunkte. Auch wenn wir 2023 vielleicht noch ein oder zwei weitere Zinserhöhungen erleben werden, glauben wir, dass die EZB ihre Geldpolitik letztlich deutlich weniger straffen wird, als der Markt derzeit einpreist. Eine Straffung durch die EZB könnte zu einer erheblichen Ausweitung der peripheren Spreads führen. Der Effekt ist derselbe wie in den Schwellenländern, wenn deren Finanzierungskosten in US-Dollar steigen: Die Nettokapitalabflüsse aus den Schwellenländern nehmen dann tendenziell zu.
Der Grund für die Unterschätzung der EWU-Inflation liegt darin, dass die Lieferengpässe und der starke Anstieg der Rohstoffpreise aufgrund des Ukraine-Konflikts im Grunde nicht vorhersehbar waren.
Gergely Majoros, Portfolio Advisor and Member of the Investment Committee, Carmignac
Man kann wohl davon ausgehen, dass die EZB die vom Markt für 2022 eingepreisten Zinserhöhungen vornehmen wird. Für 2023 sind die Inflationsdynamik, der Zustand der europäischen Wirtschaft und damit das Ausmaß der erforderlichen zusätzlichen Straffung weitaus weniger gut absehbar. Tatsächlich wird die Inflation als entscheidender Faktor darauf Einfluss nehmen, ob der heute erwartete Zinszyklus, mit einem Endsatz von nahezu 1,5% Ende 2023, zu hoch oder zu niedrig ausfallen wird.
Die Anfälligkeit der verschuldeten Länder hängt stark von den Aussichten für ihr nominales BIP-Wachstum ab. Insofern hat sich das Umfeld deutlich verändert, sowohl was das reale BIP-Wachstum als auch die Inflationsdynamik betrifft. Sollten sich die Spreads für Peripherieländer wie Italien gegenüber dem heutigen Stand deutlich ausweiten, wird die EZB wahrscheinlich einen neuen Mechanismus finden müssen, um die Spreads auf einem akzeptablen Niveau zu stabilisieren.
Andy Burgess, Fixed Income Investment Specialist, Insight Investment
Die EZB-Sitzung im Juli ist ein realistischer Termin für die erste Zinserhöhung, wobei die Zinssätze wahrscheinlich schrittweise auf 1 % bis 1,25 % im Jahr 2023 angehoben werden.
Die Finanzierungskosten für kleinere Länder werden im Laufe der Zeit steigen, aber die gemeinsame Emission von EU-Anleihen hat einen starken Präzedenzfall geschaffen und könnte zur Bewältigung künftiger Krisen leicht erweitert werden. Eine pro-europäische Koalition in Deutschland und die Wiederwahl von Präsident Macron sind auch ein Trost dafür, dass das deutsch-französische Bündnis intakt bleibt.
Wahrscheinlich hat die ganze Welt die Inflation unterschätzt. Die Federal Reserve und die Bank of England stehen vor einer schwierigeren Aufgabe als die EZB, die Inflation wieder auf das Zielniveau zu bringen. Die Kerninflation ist in der Eurozone deutlich niedriger als anderswo, und obwohl der Lohndruck zunimmt, geht er von einer niedrigeren Basis aus.
Florian Ielpo, Head of Macro, Lombard Odier Investment Managers
Wir erwarten eher früher als später eine Zinserhöhung durch die EZB. Die jüngsten Messwerte einer Vielzahl von Wirtschaftsindikatoren deuten noch immer nicht auf eine Rezession hin, während die Inflation weiterhin hoch ist. Die EZB muss jetzt die Inflation bekämpfen, und es wird eine ziemliche Zeit brauchen, bis sich die monetären Bedingungen in Europa auf das Wachstum und die Inflation auswirken.
Der Krieg in der Ukraine verursacht in der Eurozone einen stärkeren Rohstoffschock als in den USA, was die Region unter Wachstumsgesichtspunkten anfälliger macht.
Die derzeitige Inflation ist das Ergebnis einer temporären Versorgungsstörung. Dieser Nachfrageschock hat zu einer Inflationsexplosion geführt. Die Märkte gehen derzeit davon aus, dass die EZB die Zinssätze um bis zu 50 Basispunkte anheben könnte. Wir denken, dass der Markt sich irrt und die Anzahl der erforderlichen Zinserhöhungen unterschätzt. Angesichts der nach wie vor starken Wachstumsdynamik würde uns ein Leitzins in der Größenordnung von 1,5 % nicht überraschen.
Olivier de Berranger, Chief Investment Officer, LFDE
Es besteht kein Zweifel, dass die EZB im Juni das Ende des Anleihekaufprogramms ankündigen und im Juli die Zinsen um 25 Basispunkte anheben wird. Auch 50 Basispunkte sind nicht völlig ausgeschlossen. Der Markt hat sich auf einen solchen Schritt vorbereitet, die langfristigen Zinssätze steigen seit September letzten Jahres stetig. Die 10-jährige Bundrendite ist von -0,50 auf mehr als 1 % gestiegen, die Rendite 10-jähriger italienischer Staatsanleihen (BTP) von 0,50 auf 3,0 %. Der langfristige Teil der europäischen Renditekurve rechnet also bereits damit, dass die Inflation anhalten wird und die EZB zum Handeln gezwungen ist. Diese Niveaus sind auch keineswegs bedrohlich für die Solvabilität der südlichen Länder. Natürlich ist die Position der EZB aufgrund der importierten Inflation in der Eurozone, hauptsächlich durch die gestiegenen Lebensmittel- und Energiepreise, nicht einfach. Doch die Negativzinspolitik zu beenden, mit der wir seit Mitte 2014 leben, hat Priorität.
Nach einer langen Phase einer sehr lockeren Geldpolitik normalisiert die EZB die geldpolitischen Rahmenbedingungen. Eine höhere und umfassendere Inflation veranlasst die EZB, restriktiver und früher als erwartet zu handeln.
Wir glauben, dass die EZB einen gewissen Spielraum hat, um die Zinssätze in Richtung eines normaleren Niveaus zu erhöhen. Ein aggressiver Erhöhungszyklus scheint aber unwahrscheinlich. Für die Eurozone halten wir ein Stagflationsszenario am wahrscheinlichsten. Das Wirtschaftswachstum in der Eurozone ist nur mäßig und die verschuldeten Länder können viel höhere Zinsen einfach nicht verkraften.
Wenn die mittelfristigen Inflationserwartungen nicht außer Kontrolle geraten, erwarten wir eine allmähliche Straffung mit Anhebungen von 25 Basispunkten. Dennoch gehen wir davon aus, dass die Realzinsen auf absehbare Zeit negativ bleiben werden.
Paul Jackson, Global Head of Asset Allocation Research, Invesco
Da die Inflation in Deutschland im Mai 7,9 % erreichte, scheint es unvermeidlich, dass die EZB im Juni oder Juli eine erste Zinserhöhung vornehmen wird, wohl von 25 Basispunkten. Da sie das Inflationsrisiko unterschätzt hat, will sie ihre Stützungsmaßnahmen rasch zurückfahren. Ich denke, dass die Zentralbanken die Inflation unterschätzt haben, zum einen, weil sie darauf konditioniert wurden, eine niedrige Inflation zu erwarten, zum anderen, weil sie die wirtschaftliche Erholung unterschätzt haben und zum dritten, weil sie nicht in der Lage sind, die Auswirkungen der Unterbrechung der Lieferkette vorherzusagen.
Das Risiko für die EZB besteht darin, dass sie die Straffung genau zu dem Zeitpunkt vornimmt, zu dem die Eurozone aufgrund des Wegfalls der Exportmärkte in Russland und der drückenden Wirkung der höheren Energie- und Lebensmittelpreise von einer Rezession bedroht ist. Höhere Zinssätze könnten die Verlangsamung verstärken, aber angesichts des niedrigen Zinsniveaus bezweifle ich, dass sie schon jetzt eine Rolle spielen werden.
Pietro Baffico, European Economist, abrdn
Der politische Fehltritt von 2011, die Deflationsrisiken der Vergangenheit, die umfangreichen geldpolitischen Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und die Änderungen des Inflationsziels haben die EZB zu einer lockeren Haltung veranlasst und ihre Inflationstoleranz erhöht. Während die anhaltenden Versorgungsunterbrechungen die Bedenken noch verstärkten, versetzte die Invasion in der Ukraine den endgültigen Schlag, der die Preise in historische Höhen trieb.
Wir erwarten, dass die EZB die Zinsen im Juli, September und Dezember um 25 Basispunkte anheben wird. Der geldpolitische Ausblick für 2023 trübt sich ein, da die Wirtschaft mit einem schwächeren globalen Umfeld und Rezessionsrisiken zu kämpfen hat. Wirtschaftliche Abschwünge werden die Anleger auch dazu veranlassen, unterschiedliche Risiken zwischen den europäischen Staaten einzupreisen, was zu einer Ausweitung der Renditespannen bei Anleihen führt und die EZB schliesslich dazu zwingt, gegen Fragmentierungsrisiken zu intervenieren.
Die EZB wird die Zinssätze wahrscheinlich im Juli anheben. In einem ungewöhnlichen Schritt hat EZB-Präsidentin Lagarde die kurzfristigen Pläne der Zentralbank für die Geldpolitik erläutert und damit den Beginn des Zinserhöhungszyklus der EZB im Juli bestätigt. Sie deutete auch an, dass die EZB bei jeder weiteren Sitzung in diesem Jahr Zinserhöhungen von 25 Basispunkten vorsieht, so dass der Leitzins zum Jahresende leicht im positiven Bereich liegen wird.
Insgesamt ist es sinnvoll, dass die EZB den Weg der schrittweisen Normalisierung einschlägt. Die jüngsten Daten deuten darauf hin, dass sich der Aufschwung in den letzten Monaten trotz des Schocks durch den Krieg in der Ukraine fortgesetzt hat.
Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass der Straffungszyklus der EZB reibungslos abläuft. Der Ausstieg aus den Negativzinsen ist ein relativ leicht zu erreichendes Ziel – durch den Abwärtsdruck auf die Währung ist der negative Depozins unter den derzeitigen Umständen eher kontraproduktiv.
Katharine Neiss, Chief European Economist, PGIM Fixed Income
Die Inflation im Euroraum ist deutlich höher als erwartet. Das liegt vor allem an dem unerwarteten Inflationsschock aufgrund höherer Energiepreise als Folge der aktuellen geopolitischen Turbulenzen. Die solide Konjunktur zu Jahresbeginn ermöglichte es der EZB, eine Umstellung ihrer Politik vorzubereiten, um die Ankäufe von Vermögenswerten zu beenden und Zinsen anzuheben. Offen bleibt jedoch, wie weit die Zinsen über 0 % steigen werden. Dies wird davon abhängen, wie sich die Daten zum Jahresende entwickeln werden. Wenn die wirtschaftliche Entwicklung des Euroraums bis ins neue Jahr hinein anhält und das nominale Lohnwachstum anzieht, könnte dies einen aggressiveren geldpolitischen Kurs rechtfertigen, wie er derzeit von den Märkten antizipiert wird. Sollte sich das Wachstum abschwächen und die Nettolöhne niedrig bleiben, dürften die Zinserhöhungen deutlich unter 1 % liegen. Höhere Energiepreise, Chinas Konjunkturabschwächung und restriktivere Finanzbedingungen machen Letzteres wahrscheinlicher.
Christopher Jeffrey, Head of Inflation and Rates Strategy, Legal & General Investment Management
Unserer Einschätzung nach wird eine Anhebung im Juli allgemein erwartet: 25 Basispunkte sind zu mehr als 100% eingepreist, alles andere wäre nach Christine Lagardes jüngstem Blogbeitrag eine große Überraschung. Schließlich hat die EZB besonderes Augenmerk auf die Inflationsgefahr. Das Argument, die südeuropäischen Länder könnten durch Zinserhöhungen in den Bankrott getrieben werden, ist unserer Meinung nach nicht stichhaltig. Höhere Finanzierungskosten üben zwar in der Regel Druck auf die langfristigen Schuldenprognosen aus, aber für ein ernsthaftes Refinanzierungsproblem wären größere Steigerungen als die erwarteten nötig. Die unerwartet hohe Inflation ist ein weltweites Phänomen, ausgelöst von den Folgen der Pandemie, einer lockeren Geld- und Fiskalpolitik und dem Rohstoffpreisschock nach der russischen Invasion der Ukraine. Wir gehen davon aus, dass die Zinsen im Juli um 25 Basispunkte angehoben werden, gefolgt von drei weiteren Anhebungen bis zum Jahresende.
François Rimeu, Senior Strategist, La Française AM
Die EZB-Mitglieder haben sich relativ klar geäußert. Ja, sie werden die Anleihekäufe Ende Juni einstellen, und ja, sie werden die Zinsen im Juli und September anheben, voraussichtlich um je 25 Basispunkte. Die einflussreichsten EZB-Mitglieder haben kürzlich bekräftigt, die quantitative Lockerung (QE) zu beenden und den Einlagensatz wieder anzuheben.
Die Finanzmärkte haben sich vor allem in Europa an QE gewöhnt. Es ist ungewiss, wie sich die Schulden der Peripherieländer entwickeln werden, wenn die EZB ihr Kaufprogramm einstellt. Werden wir eine deutliche Ausweitung der Spreads erleben? Das ist möglich und deshalb bewerten wir Peripherieanleihen nicht positiv. Wir halten einen Zahlungsausfall jedoch für unwahrscheinlich, solange die einzelnen Länder gewillt sind, in der Eurozone zu bleiben.
Die Unterschätzung der Inflation durch die EZB ist eine Folge des Russland-Ukraine-Krieges und des Zweitrundeneffekts durch die steigenden Energiepreise.
Wir sehen den Leitzins der EZB am Ende bei 1 %.
Wolfgang Bauer, Fondsmanager im Public Fixed Income Team, M&G Investments
Eine Zinserhöhung hätte vor allem Symbolkraft. Die Zinsen auch bei der momentanen Inflationsrate auf ihrem historischen Tiefstand zu belassen, wäre nur schwer vermittelbar. Hier geht es letztendlich um die Glaubwürdigkeit der EZB, die ja ohnehin in der Kritik steht, nicht rechtzeitig gegengesteuert zu haben. Im Nachhinein ist es natürlich sehr leicht zu fragen, warum die Geldmarktpolitik nicht schon früher gestrafft wurde. Aber aufgrund der komplexen Datenanlage in der Pandemiezeit, für die es keinerlei geldpolitische Blaupause gab, sollte man mit allzu harter Kritik an der EZB vorsichtig sein.
Ein Zinsschritt wäre auch im Hinblick auf die Staatsfinanzen der südeuropäischen Euro-Länder zu verkraften. Die Basiszinssätze würden sich auch weiterhin am unteren Rand der historichen Skala bewegen. Sollten die Risikoaufschlagsprämien sich im Jahresverlauf stark weiten und die Refinanzierungskosten deutlich erhöhen, dann würde die EZB wohl wieder aktiv werden, etwa durch gezielte Anleihekäufe.
Jörg Angelé, Senior Economist, Bantleon AG
Durch ihre beharrliche Fehleinschätzung von Dauer und Ausmass des Inflationsschubs hat sich die EZB in eine missliche Lage manövriert. Zum einen muss sie nun beinahe überstürzt die Zinsen anheben. Zum anderen hat sie erheblich an Glaubwürdigkeit verloren. Inzwischen ist auch den Währungshütern klar, dass sich die Teuerung in den nächsten Jahren oberhalb des Notenbankziels festsetzen wird. EZB-Präsidentin Lagarde hat für Juli und September daher zwei Zinsanhebungen à 25 Bp in Aussicht gestellt. Wir gehen davon aus, dass weitere Schritt um je 25 Bp folgen, bis die Leitzinsen etwa 2,0% erreicht haben. Eine Gefahr für die Schuldentragfähigkeit einzelner Euroländer ergibt sich daraus jedoch nicht. Erstens liegen die Renditen selbst am langen Ende aktuell nur etwa 50 Bp oberhalb des durchschnittlichen Zinssatzes, den zum Beispiel Italien auf seine ausstehenden Staatsschulden bezahlen muss. Zweitens hilft die enorm hohe Inflation, die Defizite zu verringern und die Schuldenstände zu drücken.
Unserer Meinung nach wird sich die EZB der Fed anschließen und die Zinsen ab Juli wieder in den positiven Bereich anheben. Dies sollte für Spielraum sorgen, wenn sich die hohen Energiekosten auf Verbraucher und Unternehmen auswirken. Der US-Einkaufsmanagerindex – ohne Einzelhandel – ließ zuletzt auf ein anhaltendes Wirtschaftswachstum schließen. In Deutschland weist der aktuelle Geschäftsklimaindex ebenfalls auf Optimismus hin und liegt höher als während der Euro-Staatsschuldenkrise. Das wird die EZB bei ihrer Zinserhöhung im Juli trösten.
An den Märkten erwarten wir steigende Anleiherenditen und eine Verflachung der Kurven. Die wichtigste Frage: Was wird die EZB tun, um steigende Renditen in der Euro-Peripherie einzudämmen, wenn sich die finanziellen Bedingungen verschärfen? Die Reaktion dieser Anleihen macht die geldpolitische Aufgabe der EZB komplizierter. Wir glauben aber, dass sie auf die Risiken der Peripherie achten wird - daher die anhaltende Betonung der Flexibilität.
Bethany Payne, Global Bonds Portfolio Manager, Janus Henderson Investors
Nach dem schnelleren Ausstieg aus dem APP kann die EZB im Juli – wir erwarten eine Anhebung von 25 Basispunkten und eine im September - nahtlos vom Gas- zum Bremspedal wechseln. Der Ukrainekrieg hat die Lage verändert. Er hat zu einer langanhaltenden Inflation geführt und die Aussichten auf einen Aufschwung verringert.
Die Länder in Europa nahmen während der Pandemie viele Kredite auf. Ihre Schulden stiegen bis 2021 auf $14 Bio – ein Anstieg von 8,7 % im Jahresvergleich bei konstanten Wechselkursen. In Deutschland stieg die Schuldenlast um 14,7 % – fast doppelt so stark wie der weltweite Durchschnitt. Jedoch ist die Pro-Kopf-Verschuldung in Deutschland mit $28.042 immer noch relativ niedrig im Vergleich zu Italien ($45.079) und Irland ($47.320).
Der Anstieg der europäischen Anleiherenditen erscheint alarmierend, da die schwächeren Volkswirtschaften eine höhere Schulden- und Zinslast zu tragen haben. Die Kosten für die europäischen Steuerzahler sind jedoch nach wie vor sehr gering.
Weitere aktuelle e-fundresearch.com Umfrageserien:
Performanceergebnisse der Vergangenheit lassen keine Rückschlüsse auf die zukünftige Entwicklung eines Investmentfonds oder Wertpapiers zu. Wert und Rendite einer Anlage in Fonds oder Wertpapieren können steigen oder fallen. Anleger können gegebenenfalls nur weniger als das investierte Kapital ausgezahlt bekommen. Auch Währungsschwankungen können das Investment beeinflussen. Beachten Sie die Vorschriften für Werbung und Angebot von Anteilen im InvFG 2011 §128 ff. Die Informationen auf www.e-fundresearch.com repräsentieren keine Empfehlungen für den Kauf, Verkauf oder das Halten von Wertpapieren, Fonds oder sonstigen Vermögensgegenständen. Die Informationen des Internetauftritts der e-fundresearch.com AG wurden sorgfältig erstellt. Dennoch kann es zu unbeabsichtigt fehlerhaften Darstellungen kommen. Eine Haftung oder Garantie für die Aktualität, Richtigkeit und Vollständigkeit der zur Verfügung gestellten Informationen kann daher nicht übernommen werden. Gleiches gilt auch für alle anderen Websites, auf die mittels Hyperlink verwiesen wird. Die e-fundresearch.com AG lehnt jegliche Haftung für unmittelbare, konkrete oder sonstige Schäden ab, die im Zusammenhang mit den angebotenen oder sonstigen verfügbaren Informationen entstehen.
Klimabewusste Website
AXA Investment Managers unterstützt e-fundresearch.com auf dem Weg zur Klimaneutralität.
Erfahren Sie mehr.