Flossbach Analyst: Deutschland nahe am Abstellgleis?

Düstere Prognosen über die deutsche Wirtschaft sind allgegenwärtig. Doch inmitten der Herausforderungen gibt es auch Chancen, die oft übersehen werden. Ein Gastkommentar von Julian Marx, Research Analyst bei der Flossbach von Storch SE. Markets | 20.02.2025 09:00 Uhr
Julian Marx, Research Analyst bei der Flossbach von Storch SE. / © e-fundresearch.com / Flossbach von Storch
Julian Marx, Research Analyst bei der Flossbach von Storch SE. / © e-fundresearch.com / Flossbach von Storch

Anhaltende Konflikte, politische Turbulenzen und eine Wirtschaft vor großen Herausforderungen: Die Stimmung am Standort Deutschland ist derzeit düster und die Unzufriedenheit in vielen Bereichen groß; und das nicht erst seit gestern.

Doch so mancher hat es satt, ewig zu jammern. Also besser einen Schlussstrich ziehen – womöglich also, wie inzwischen häufiger debattiert, auswandern?

Alternative USA mit Sicherheitsproblemen...

In den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten viel Positives zu berichten. Es ist die größte Volkswirtschaft der Welt. Die Wirtschaft brummt und acht der zehn wertvollsten Unternehmen der Welt sind dort beheimatet.

Doch können die wirtschaftlichen Erfolge kaum über andere Probleme hinwegtäuschen. Die Lebenserwartung in den USA lag zuletzt vier Jahre unter dem EU-Durchschnitt. Ein Grund ist die erhebliche Waffengewalt, sodass Mord und Totschlag in Relation zur Bevölkerungsgröße siebenmal so häufig vorkommen wie in Deutschland.

Auch wiegt die soziale Ungleichheit im Land schwer. So lag das Nettoeinkommen in den USA, das einem Singlehaushalt im Bedarfsfall durch soziale Sicherungsnetze bereitgestellt wird, nach Angaben der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) im Jahr 2023 bei gerade einmal sechs Prozent des verfügbaren Medianeinkommens.

Kein anderes OECD-Land weist einen niedrigeren Wert auf. Der OECD-Schnitt beträgt etwa 35 Prozent. Im Ergebnis gibt es kaum eine andere entwickelte Volkswirtschaft, in der das Gefälle zwischen Armut und Reichtum so ausgeprägt ist wie im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Der American Dream ist für Millionen US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner eher ein Albtraum.

...und Chinas Wachstumsmodell zeigt Risse

China ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, das Wachstum der vergangenen Jahrzehnte war beeindruckend. Zudem werden Großprojekte dort oft in einem atemberaubenden Tempo abgewickelt.

Es könnte also eine Alternative sein, zumindest für Macher. Denn China ist keine Demokratie, wie wir sie kennen. Und selbst die vermeintlich hohe Effizienz offenbart auf den zweiten Blick Schattenseiten.

So strömen seit Jahrzehnten die Menschen vom Land in die Städte, wo weit mehr zu verdienen ist. Dieser Zustrom wurde zwar streng reguliert. Doch das Streben nach Urbanisierung hat dazu geführt, dass neuer Wohnraum in einem Ausmaß geschaffen wurde, der die Geschwindigkeit der Besiedlung in vielen Fällen deutlich überstiegen hat.

Selbst wenn alle Immobilien in einer dieser neu geschaffenen Städte verkauft werden konnten, soll es in diesem riesigen Land nicht ungewöhnlich sein, dass der Leerstand bei mehr als 80 Prozent liegt. Leben in Geisterstädten, weil unzählige Quadratmeter Wohn- und Gewerbeflächen leer stehen, die ihre Entstehung auch der Spekulation verdanken – eine politisch induzierte Immobilienblase, die ihresgleichen sucht.

Egal also, ob mit Blick auf die Stimmung am Standort Deutschland, die soziale Kluft in den USA oder die chinesische Immobilienblase: All diese Probleme sind deprimierend, weil sie hausgemacht und nicht neu sind. Dennoch sind sie ungelöst – in allen Teilen der Welt. Ist es also eine gute Alternative, in die Ferne zu flüchten, wo andere Unzulänglichkeiten lauern?

Richten wir lieber einen Blick auf bisher Erreichtes – und überlegen, was noch (an Positivem) auf uns zukommen mag.

Enorme Effizienzgewinne im Agrarsektor

Es gibt wenige Bereiche, in denen der Fortschritt auch bei uns so offenkundig ist wie in der Landwirtschaft. Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Agrarsektors hat sich seit dem späten 19. Jahrhundert rapide gewandelt.

In Deutschland lag der Anteil der Landwirtschaft an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung im Jahr 1880 bei etwa 36 Prozent. Im Jahr 2021 waren es lediglich 0,8 Prozent. Waren 1880 noch fast die Hälfte aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig, ist dieser Anteil in Deutschland auf zuletzt etwa zwei Prozent gesunken. Dabei wird heute in diesem Sektor deutlich mehr produziert.

So war Mangelernährung vor 120 Jahren nichts Ungewöhnliches. Denn um das Jahr 1900 produzierte ein Bauer lediglich Nahrungsmittel für vier Personen.

Heute sorgt er für weit mehr als 100 Menschen. Bessere Anbaumethoden, eine mechanisierte und spezialisierte Bewirtschaftung der Ackerflächen haben ebenso zu diesem Erfolg beigetragen wie künstlicher Dünger.

Und dieser Fortschritt muss keineswegs zu Ende sein. So wird inzwischen mit Drohnen gearbeitet, nicht nur um Zwischenfälle mit Wildtieren zu vermeiden. Auch der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und Düngung kann so immer mehr optimiert werden.

Dabei hilft auch die Forschung an immer neuen Sorten, die gegen viele Krankheiten resistent sind. Und mithilfe von Künstlicher Intelligenz warten weitere, innovative Lösungsansätze.

Wichtige Entdeckungen im Gesundheitswesen

Auch abseits der Landwirtschaft hat sich viel getan. Revolutionäre Entwicklungen im Gesundheitswesen haben – gemeinsam mit einer verbesserten Hygiene und der Ernährung – zu erstaunlichen Erfolgen bei der Lebenserwartung beigetragen können.

In den Jahren 1871 bis 1881 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt für Männer 35,6 und für Frauen 38,5 Jahre. Nach den Ergebnissen der Sterbetafel 2021/2023 hat sich die Lebenserwartung hierzulande mittlerweile mehr als verdoppelt und liegt bei 78,2 Jahren für Männer beziehungsweise 83,0 Jahren für Frauen.

Die Forschungspipeline ist voll

Die erzielten Fortschritte in der Medizin bedeuten zudem noch lange nicht das Ende der Fahnenstange. Beispielsweise schrieb der US-amerikanische Pharmaverband PhRMA Ende 2023, dass sich rund 1.600 Arzneimittel und Impfstoffe gegen Krebs in klinischer Entwicklung befinden.

Aussichtsreiche Perspektiven in der Medizin sind nicht zuletzt eng mit Fortschritten im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) verknüpft. Im Jahr 2019 gelang es beispielsweise einem Münchner Forscherteam, Krebsmetastasen mit einem Algorithmus automatisiert zu erkennen.

Mithilfe von Laser-Scanning-Mikroskopen war es den Forschern bei Mäusen möglich, kleinste Metastasen bis hin zu einzelnen Krebszellen im transparenten Gewebe der Mauskörper zu erkennen. Dabei erfasst der Algorithmus die Metastasen mit einer vergleichbaren Genauigkeit wie ein menschlicher Experte in mehr als 300-facher Geschwindigkeit. So soll sich die manuelle Erkennungsarbeit von Monaten in weniger als einer Stunde erledigen lassen.

Wie wertvoll ein derartiger Fortschritt für viele Krebspatienten und ihre Angehörigen sein kann, zeigt sich daran, dass mehr als 90 Prozent der Patienten nicht an den Folgen des zuerst erkannten Tumors sterben, sondern an den Folgen der Metastasen.

Entwicklungsschub dank Künstlicher Intelligenz

Auch in anderen Bereichen bestehen zahlreiche Möglichkeiten, wie KI die Arbeit der Menschen automatisieren und verbessern kann. Unter dem Schlagwort Industrie 4.0 wird etwa die angestrebte intelligente Vernetzung von Maschinen und Abläufen in der Industrie zusammengefasst.

Immer mehr Ideen finden praktische Anwendung. Zahlreiche Anwendungsbeispiele sind auf den Seiten des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz veröffentlicht.

Beispielsweise setzt der Geschäftsbereich Diesel Systems der Robert Bosch GmbH in Homburg im Saarland auf eine innovative Lösung, welche die Transparenz im Wertstrom steigert. Dabei werden mithilfe von „Radio Frequency Identification“-Tags Teile und Packeinheiten individualisiert und können so berührungslos und ohne Sichtkontakt automatisiert gebucht werden. Dadurch lässt sich ihre Position in der Logistikkette eindeutig ermitteln und die Transparenz der Lieferkette steigern.

Die Firma Kaeser Kompressoren aus Coburg setzt auf einen verbesserten Kundenservice durch eine vorausschauende Wartung. Dafür werden die Sensoren in Druckluftkompressoren in Echtzeit überwacht. Dies ermöglicht das Erkennen von Mustern, die auf einen baldigen Ausfall hinweisen. Die laufende Auswertung der Daten ermöglicht es, notwendige Wartungsarbeiten frühzeitig zu erkennen und entsprechende Serviceaufträge rechtzeitig anzustoßen.

Bahn frei für Innovationen

Die Liste der neuen Entwicklungen ist lang – in vielen Bereichen. In Deutschland. Doch nur in den seltensten Fällen erfahren die Entdeckungen eine breite mediale Aufmerksamkeit. Eine ermutigende Ausnahme war die Entwicklung eines Covid-19-Impfstoffs durch das Mainzer Immuntherapie-Unternehmen BioNTech.

Auch wenn also der Fortschritt nicht immer offensichtlich ist, ist er doch gegenwärtig. Graduell, aber beständig werden Prozesse optimiert und Automatisierungsschritte vorangetrieben. In der Logistikbranche ebenso wie in der Landwirtschaft. Im Gesundheitswesen, in der Industrie und in einigen Fällen selbst in der öffentlichen Verwaltung.

In einer alternden Gesellschaft wie der deutschen sind solche Fortschritte auch notwendig, wenn das erreichte Wohlstandsniveau langfristig erhalten und weiter ausgebaut werden soll. Das bleibt eine Herausforderung. Zuversicht lässt sich daraus ziehen, dass erhebliche Effizienzgewinne in den vergangenen Jahrzehnten stets Humankapital freigesetzt haben, das sich um andere Bereiche kümmern konnte.

In der modernen Gesellschaft können sich immer mehr Menschen Themen wie Forschung und Entwicklung widmen. So ist in Deutschland das Personal in diesem Bereich zwischen 2012 und 2022 um 33 Prozent auf 785.420 Personen angestiegen.

Grund zu hoffen, dass sich unsere Gesellschaft noch lange nicht auf dem Abstellgleis befindet.

Von Julian Marx, Research Analyst bei der Flossbach von Storch SE.

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