Krieg in der Ukraine: Die langfristigen Folgen

Lionel Barber, ehemaliger Redakteur der Financial Times, teilt seine Sicht auf den Krieg in der Ukraine und dessen langfristige geopolitische und makroökonomische Folgen. Pictet Asset Management | 02.06.2022 11:16 Uhr
Lionel Barber, ehemaliger Redakteur der Financial Times / © e-fundresearch.com / Pictet Asset Management
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Diese Krise hat schon vor längerer Zeit ihren Anfang genommen. Wladimir Putin ist ein Meister der Destabilisierung. Wenn er Schwächen bei seinem Gegner spürt, liebt er es, diese auszunutzen. Jetzt hat er sich verkalkuliert. Die EU, die oft als bürokratisch und schwerfällig angesehen wird, reagierte mit beispielloser Entschlossenheit und schnellen Entscheidungen, kurz nachdem Russland in die Ukraine einmarschiert war.

Ein entscheidender Punkt ist, dass sich Putin immer beschwert hat, dass der Westen Russland ausnutzt. Ich würde gerne auf ein Interview zurückkommen, das ich im Juni 2019 im Kreml führte – wir mussten fünf Stunden auf das Interview warten, erst kurz vor Mitternacht ging es los. Putin machte deutlich, dass er davon ausgehe, dass der Westen dem endgültigen Niedergang geweiht sei, und die liberale Idee „veraltet“. Als ich ihn fragte, ob sein Risikoappetit nach 20 Jahren an der Macht zugenommen habe, wollte er sich zunächst nicht dazu äussern, konnte dann aber doch nicht widerstehen, mich mit kühlen Augen anzuschauen und zu sagen: „Nun, wir haben in Russland ein Sprichwort: Wer nichts wagt, trinkt später keinen Sekt.“ Er hat ganz klar beschlossen, das Risiko einer grossangelegten Invasion in die Ukraine einzugehen.

Das russische Militär gibt in diesem Konflikt ein miserables Bild ab. Die Taktik war komplett falsch. Die Koordination zwischen Luft, Meer und Land war schlecht, ein neuer General sollte es richten. Das russische Militär wurde regelrecht vorgeführt. 

In den westlichen Medien heisst es, dass Putin intern zunehmend unter Druck gerate, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir schon so weit sind. [Allerdings] wird es kein Staatschef, der sich absolut sicher fühlt, für notwendig halten – wie Putin vor der Invasion –, sein nationales Sicherheitsteam einzuberufen und vor der Kamera einen Treueeid leisten zu lassen. Und es gibt den einen oder anderen Oligarchen, der sich offen geäussert hat. 

Russland ist geächtet. Es ist isoliert. Diese wirtschaftlichen Sanktionen werden lange bestehen bleiben. Sollte es zu Friedensgesprächen kommen, wird die Lockerung von Sanktionen ein wichtiger Teil jedes zukünftigen Abkommens sein, und hier sitzen der Westen und die Ukraine am längeren Hebel.

Was will Putin? Was sind seine Kriegsziele? Und was wird er tun, wenn er scheitert? Wir müssen noch Antworten auf diese Fragen finden. Er könnte vielleicht die Ostprovinzen der Ukraine, einen Grossteil der Südküste einnehmen und einfach besetzen und abwarten. Er würde nicht den Sieg erklären, er würde nicht sagen, dass er sich zurückzieht. Was würde die Ukraine dann tun? Ich denke, sie würde weiterkämpfen. Beide Seiten glauben, dass sie kämpfen müssen, um an Terrain zu gewinnen, sonst würden sie als Verlierer dastehen. Wenn überhaupt, besteht die Gefahr, dass die Ukrainer angesichts ihrer Erfolge in den ersten elf Wochen des Krieges zu selbstbewusst sind.

Die Finanzmärkte würden einen grossen Fehler machen, wenn sie nicht erkennen, dass dieser Konflikt langsam eskaliert. Neue Länder schalten sich ein und versorgen Kiew mit modernen Waffen. Und dann haben wir auf der anderen Seite Russland. Es hatte eine sehr schlechte Anfangsphase, hat aber noch keine seiner modernsten Waffen eingesetzt, und es besteht die Gefahr, dass der Konflikt auf andere Länder übergreift, wenn Russland versucht, die Versorgungswege zu kappen, die der Westen durch angrenzende Länder wie Polen organisiert. Ich sage nicht, dass es zu einem solchen Übergreifen kommen wird, aber dieses Risiko besteht. Ich gehe nicht davon aus, dass es zu einem Nuklearkonflikt kommen wird, aber der Einsatz chemischer Waffen ist durchaus möglich.

"Die Finanzmärkte würden einen grossen Fehler machen, wenn sie nicht erkennen, dass dieser Konflikt langsam eskaliert."
Lionel BarberEditor - Financial Times

Das ist einer dieser Momente, den ich als „die Stunde Europas“ bezeichnen würde. Das war ein grosser Weckruf für Deutschland und es ist faszinierend zu sehen, wie sich die deutsche Meinung zur Militarisierung grundlegend verändert. Deutschland muss seine Verteidigung nun viel ernster nehmen. Das Vermächtnis der (ehemaligen Kanzlerin) Angela Merkel erscheint jetzt viel brüchiger und fragwürdiger. Ihre Politik, Russland in ein Netz wirtschaftlicher Verbindungen einzubinden und somit auf ein besseres Verhalten zu hoffen, hat nicht funktioniert. Und es gibt grosse Fragen, was die Abhängigkeit Deutschlands von russischer Energie anbelangt – auch das ist ihr Vermächtnis, weil sie sich von der Kernenergie abwandte und Kernkraftwerke abschalten liess. Eine Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Freien Demokraten wurde als nicht machbar angesehen, aber auch wenn es die eine oder andere Hürde gab, hat sich Deutschland insgesamt bewegt. Das Land rüstet wieder auf, es erhöht die Verteidigungsausgaben und es hat gerade erst beschlossen, schwere Waffen in die Ukraine zu liefern. Deutschland ist jetzt ein ganz anderer Staat als in den Jahren der Merkel-Ära.

In Frankreich gewann Emmanuel Macron deutlich (die Präsidentschaftswahl), und das ist sehr, sehr wichtig für die Aufrechterhaltung der Stabilität in Europa. Ich sehe eine enge deutsch-französische Beziehung, die immer noch die Basis der Europäischen Union ist. Aber mit einer weiteren Bedingung. Der grosse neue Akteur auf der europäischen Bühne ist der (italienische Premierminister) Mario Draghi. Er hat Italien in Bezug auf die Sanktionen in eine Führungsposition gebracht und gerade erst mehr Mehrheitsabstimmungen im Europäischen Rat gefordert.

Die grosse Neuigkeit ist, dass Schweden und Finnland sich jetzt um einen NATO-Beitritt bewerben. Auf einmal wird die östliche Flanke der NATO massiv gestärkt. Ich glaube nicht, dass Putin das einkalkuliert hatte.

Es besteht immer noch Spielraum für weitere Sanktionen. Die EU hat ein Ölembargo vorgeschlagen, aber ein Verbot russischer Gasexporte ist noch nicht in Sicht – und gerade hier regiert das Geld. Beim Thema Opfer bringen sagte Draghi etwas Interessantes, nämlich dass wir die Wahl haben zwischen Freiheit für die Ukraine und einem angenehm klimatisierten Sommer. Das ist eine sehr mutige Aussage für den Lenker eines Landes, das fast vollständig von russischer Energie abhängig ist, abgesehen von etwas Wind- und Sonnenenergie. Ich denke, wenn es ein totales Verbot gäbe, käme es sicherlich zu einer Rezession auf dem europäischen Kontinent, spätestens im vierten Quartal.

Das ist nicht das Ende der Netto-Null-Ziele Europas, aber der Prozess wird zeitlich gestreckt. Wir werden erst einmal nicht die unmittelbaren Effekte sehen, die in Glasgow (auf dem Klimagipfel) in Aussicht gestellt wurden. Der Ukraine-Konflikt hat die Wahrnehmung der Energieabhängigkeit von Russland, insbesondere in Europa, grundlegend verändert. Europa wird seine Abhängigkeit von Öl und Gas, insbesondere von Öl, reduzieren. Gebiete, die man eigentlich abgeschrieben hatte, wie die Nordsee, könnten wieder interessant werden. Wir werden eine viel nuanciertere Debatte über Energieabhängigkeit und Energiediversifizierung erleben. 

China macht sich Schwäche zunutze. Peking wird die Schwäche Russlands definitiv ausnutzen. Es ist davon auszugehen, dass China nach dem Krieg in russische Energieunternehmen investieren wird. Russlands Status als Juniorpartner Chinas im 21. Jahrhundert würde unterstrichen und bestätigt.

Putin und der chinesische Premierminister Xi Jinping proklamierten (vor dem Krieg) eine „grenzenlose“ Partnerschaft. Das war eine starke rhetorische Aussage. Aber wenn man sich anschaut, wie sich China bisher verhalten hat, stellt man fest, dass das Land noch keine schweren Waffen nach Russland geschickt hat, und chinesische Unternehmen sind sehr vorsichtig, weil sie nervös sind, dass auch sie ins Visier von Sanktionen geraten könnten. Es mag der Zeitpunkt kommen, an dem China beschliesst, mehr zu tun, um Russland zu helfen, aber Xi steht gegen Jahresende ein sehr wichtiger Parteikongress bevor, bei dem er sich um jeden Preis eine dritte Amtszeit sichern möchte. Ausserdem muss er zusehen, dass er möglichst viele treue Anhänger in seinem Politbüro hat. Zudem gehen in China die Meinungen auseinander, ob sich das Land eher Russland oder dem Westen zuwenden sollte. Xi dürfte eine klare Vorstellung davon haben, in welche Richtung das Pendel ausschlägt. 

Ein interessanter Test wird sein, welche Schlussfolgerungen China aus der Entschlossenheit des Westens in der Ukraine-Krise ziehen wird und ob sie von Dauer sein wird. Wenn dieser Krieg wirklich weitergeht, was wird dann im Winter passieren, wenn wir eine Rezession erleben, wenn diese Sanktionen wirklich wehtun und verschärft werden?

Lionel Barber, ehemaliger Redakteur der Financial Times

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