Nachhaltigkeit ist unlängst in die Unternehmenspolitik vieler Organisationen eingeflossen und auch Investoren achten immer mehr darauf. Oft führen jedoch erst Krisen im Unternehmen zum Umdenken. Durch die Pandemie und den damit einhergehenden Konjunktureinbruch wurden viele Betriebe auf eine noch nie dagewesene Probe gestellt. Es galt nicht nur, die operative Geschäftstätigkeit aufrechtzuerhalten, sondern auch Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten und Aktionäre gleichermaßen zu bedienen. Die Art und Weise, wie sich Unternehmen dieser Herausforderung stellten, brachte Interessantes über die jeweilige Firmen- und Führungskultur ans Licht. Sébastien Thévoux-Chabuel, ESG-Analyst und Portfoliomanager bei Comgest, ist davon überzeugt, dass Anleger hierdurch Rückschlüsse auf das ESG-Qualitätsniveau eines Unternehmens ziehen können, welches wiederum Auswirkungen auf dessen Gewinnpotential und seine Zukunftsfähigkeit hat:
Die Pandemie hat gezeigt, wie unterschiedlich Unternehmen auf unerwartete ESG-Risiken und -Chancen reagieren: Welcher Interessensgruppe sie dabei Vorrang einräumten, wurde daran deutlich, inwieweit sie die Arbeitsplätze und Löhne mit oder ohne staatliche Hilfe sicherten sowie andere Maßnahmen ergriffen, um ihre Mitarbeiter vor gesundheitlichen Gefahren zu schützen. Wie sie sie an Entscheidungen beteiligten, die ihre Mitarbeiter unmittelbar betrafen, wie sie die Lieferanten und Kunden durch kulante und individuelle Zahlungsvereinbarungen unterstützten oder, wie sie finanzielle Opfer seitens der Geschäftsführung, leitender Angestellter und der Aktionäre einforderten, anstatt die gesamte Belegschaft in Mitleidenschaft zu ziehen. Bei unserer Analyse ging es uns nicht darum, die Unternehmensreaktionen als „richtig“ oder „falsch“ zu beurteilen. Schließlich hatte jedes Unternehmen unterschiedliche Gründe für seine Entscheidungen, wie die kontroversen Diskussionen um die Dividendenpolitik deutlich machen.
LVMH und Unilever etwa reagierten, abgesehen von ihrer Dividendenpolitik, in sehr ähnlicher Weise auf die Pandemie. So waren beide Unternehmen darauf bedacht, auf Mitarbeiterkündigungen zu verzichten, keine staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen und durch Spenden und eigenes Engagement, etwa durch Produktionsumstellung, einen Beitrag zur Bewältigung der Krise zu leisten.
Ein weiteres Beispiel ist Orpéa, Europas führender Betreiber von Seniorenpflegeheimen. Während der Krise stand die Branche wie kaum eine andere unter Beobachtung der Öffentlichkeit und in einigen Pflegeheimen legten Beschäftigte wegen COVID-19 die Arbeit nieder. Orpéa versorgte dagegen seine Mitarbeiter in Windeseile mit Schutzausrüstung und zahlte ihnen eine Sonderzulage. Dafür stellte das Unternehmen ein Fünftel des im Geschäftsjahr 2019 erwirtschafteten Reingewinns bereit. Mit diesen Maßnahmen sicherte es sich die Loyalität seiner Mitarbeiter und das Pflegeniveau in seinen Einrichtungen.
Mit ähnlichen Initiativen half auch der weltweit zweitgrößte Brauereikonzern Heineken seinen Kunden. So erließ der Konzern in einigen Fällen den Gastwirten Mietzahlungen und bezahlte seine Lieferanten weiter. Gleichzeitig verzichteten die Führungskräfte von März bis Dezember 2020 auf 20 Prozent ihres Gehalts, während das Unternehmen selbst 23 Millionen Euro zur Unterstützung von medizinischem Personal spendete. Wie bereits in den Jahren 2008 und 2009 war Heineken einer der Letzten in der Branche, die auf die Kostenbremse traten. Dies spiegelt nicht nur seine Einstellung gegenüber seinen Mitarbeitern wider, sondern auch seine langfristige Herangehensweise an die Entwicklung seiner Marke. Doch auch seine Mitarbeiter unterstützte der Einzelhandelskonzern, indem er den Jahresbonus um fünf Prozent anhob.
Effiziente Lieferketten haben auch für den Einzelhändler Jéronimo Martins einen hohen Stellenwert und erheblichen Anteil an seinem Wettbewerbsvorteil. Das Unternehmen ist für seinen fairen Umgang mit Lieferanten bekannt, den diese wiederum mit Treue belohnen. Als Jéronimo Martins 2013 nach Kolumbien expandierte, flogen Mitarbeiter seiner polnischen Lieferanten nach Lateinamerika, um die Unternehmen vor Ort beim Aufbau effizienter Lieferketten zu unterstützen. Auch während der Pandemie behielt das Unternehmen den fairen Umgang mit seinen Zulieferern bei, denen es in der Krise Überbrückungskredite anbot. In diesem Kontext ist davon auszugehen, dass dieses Verhalten die Loyalität der Lieferanten weiter verstärken wird, in dessen Folge es dem Unternehmen auch in Zukunft gelingen sollte, seinen Kostenvorteil zu behaupten.
Einigen Unternehmen fiel dabei die Unterstützung ihrer Interessensgruppen deutlich leichter als anderen. Der italienische Automobilhersteller Ferrari ergriff ein ganzes Maßnahmenbündel, um seinen Mitarbeitern trotz zeitweiliger Produktionsunterbrechung unter die Arme zu greifen, was sich der finanzstarke Hersteller von Luxusautos wohl auch leisten konnte. Für Amadeus, dessen Umsatz in Folge der Krise um 70 Prozent einbrach, galt das nicht in gleichem Maße. Doch auch hier versuchte die Geschäftsführung Entlassungen zu vermeiden, indem sie unbezahlten Urlaub anbot. Andere Unternehmen wie die US-amerikanische Großhandelskette Costco stellten sogar die Sicherheit ihrer Mitarbeiter und Kunden über ihren eigenen betrieblichen Nutzen. In diesem Zusammenhang führte der Konzern viele Maßnahmen ein, die später von Wettbewerbern kopiert wurden. Dazu zählt etwa die Notwendigkeit des Tragens von Mund-Nasen-Schutz während des Einkaufs oder exklusive Einkaufszeiten für über 60-Jährige und Mitarbeiter im Gesundheitswesen.
Zusammenfassend gilt: Alle Unternehmen mussten in dieser Krise schwierige Entscheidungen zum Umgang mit ihren verschiedenen Interessensgruppen treffen – inklusive der Frage, welche finanzielle Opfer sie dafür bringen wollten. Die Folgen dieser Entscheidungen mögen sich zwar noch nicht in den ESG-Datenbanken widerspiegeln. Aus unserer Sicht werden sie aber langfristig Einfluss auf die Fähigkeit der Unternehmen haben, ihren Gewinn nachhaltig zu steigern und ihre ESG-Qualität weiter zu verbessern. Schließlich sagt die Reaktion der Unternehmen einiges darüber aus, wie sehr ihre Geschäftspolitik mit Blick auf eine verantwortungsbewusste Unternehmensführung an den UN-Nachhaltigkeitszielen (SDGs) ausgerichtet ist – ein Maß, an welchem Unternehmen zukünftig wohl immer häufiger gemessen werden dürften.
Sébastien Thévoux-Chabuel, ESG-Analyst und Portfoliomanager bei Comgest