Dabei geht es weniger um die Neuverteilung von Macht und Einfluss auf der europäischen Ebene. Zwar wird die Mehrheitsfindung im Europaparlament schwieriger, da die „inoffizielle“ große Koalition aus EVP und Sozialisten ihre absolute Mehrheit einbüßt und man vermutlich Dreier- statt der gewohnten Zweierbündnisse für Entscheidungen benötigen wird. Aber: Auch künftig werden die populistischen Gruppierungen nicht stark genug sein, um die Agenda in Brüssel zu diktieren. Die Sorge vor einer Übernahme des EU-Parlaments durch die Populisten ist übertrieben. Das ist neben der hohen Wahlbeteiligung die vermutlich beste Nachricht des Wahlabends.
Gefahr droht aus den nationalen Hauptstädten
Die größte Gefahr droht in den nationalen Hauptstädten. Sowohl in London als auch in Rom könnten die amtierenden Regierungen unter Druck geraten. Es droht ein Anstieg der politischen Unsicherheit auf zwei sehr kapitalmarktrelevanten Feldern, nämlich dem Brexit und der italienischen Haushaltskonsolidierung. Und auch in Frankreich ist mit einer Zunahme der innenpolitischen Spannungen zu rechnen: Nachdem Marine Le Pen Staatspräsident Emmanuel Macron auf Platz zwei verwiesen hat, ist dessen Machtposition geschwächt.
Selbst in Deutschland, bislang dem Hort der politischen Stabilität auf dem Kontinent, dürfte das Ergebnis Spuren hinterlassen. Beide Volksparteien haben herbe Verluste erfahren. Insbesondere die SPD dürfte unter Druck geraten, nicht zuletzt durch innerparteiliche Diskussionen über Ursachen und Wirkung des Ergebnisses. An den Kapitalmärkten könnte diese Entwicklung als ein erstes Warnsignal über den Bestand der Großen Koalition gewertet werden. Damit ergibt sich aus mehreren Mosaiksteinchen für Investoren ein Bild ansteigender politischer Risiken.
Nachfolge-Troika
Eine spannende, nicht ganz offensichtliche Konsequenz aus dem Wahlergebnis ist die Frage nach der personellen Neubesetzung der Spitzenpositionen Europas. Nachdem das Resultat zu keiner eindeutigen Mehrheit für einen der drei meistgehandelten Spitzenkandidaten geführt hat, ist die Personalie des neuen Kommissionspräsidenten derzeit absolut offen. Da die Nachfolge von Jean-Claude Juncker (Kommission), Donald Tusk (Europäischer Rat) und Mario Draghi (EZB) kaum isoliert voneinander geregelt werden kann, führt die Europawahl auch bei der Frage des nächsten EZB-Präsidenten zu mehr Unsicherheit. Draghis Nachfolge ist somit offener denn je.
Für die europäischen Kapitalmärkte ist das Wahlergebnis Weckruf und Belastung zugleich. Die Anlageregion wird angesichts der anhaltenden Unsicherheiten über den politischen Kurs Europas mit Bewertungsabschlägen gegenüber international vergleichbaren Investments leben müssen. Es droht eine Populisten-Prämie. Diese resultiert daraus, dass im Gegensatz zur Situation in den USA nicht ein populistisch agierender Präsident sondern zahlreiche populistisch agierende Parteien mit z.T. stark divergierenden und oftmals eher anti-europäischen Motiven agieren. Die Europawahl zeigt: Der Kontinent braucht politische Bewegung und neue Weichenstellungen, soll er wirtschaftlich erfolgreich und damit strategisch attraktiv für Investoren bleiben. Dem EU-Parlament sowie der EU-Kommission kommen dabei Schlüsselrollen zu. Zunehmender Populismus dürfte dabei kein nachhaltiges Erfolgsrezept sein – im Gegenteil.
Dr. Frank Engels, Leiter Portfoliomanagement, Union Investment