Der Zinssenkungszyklus hat begonnen, auch wenn die Juni-Prognose auf einen vorsichtigen Verlauf hindeutet. Nach der ersten Zinssenkung lautet nun die Frage, wie viele weitere folgen werden. Die makroökonomischen Projektionen vom Juni deuten auf weniger Zinsschritte hin als erwartet. So wurde die Gesamtinflation auf 2,5 % für 2024 und 2,2 % für 2025 nach oben revidiert. Bei der Kerninflation erwarten die Währungshüter für 2024 2,8 %, für 2025 2,2 %. Insgesamt haben die aktuellen Projektionen weniger dovishe Implikationen als noch im März: Die Inflation wird auch 2025 über ihrem Zielwert bleiben, obwohl die Marktpreisbildung für Zinssätze diesmal höher ausgefallen ist.
Zur Aufwärtsrevision haben sicherlich auch angestiegene Rohstoffpreise beigetragen, vor allem dürfte jedoch der inländische Preisdruck eine Rolle gespielt haben, von dem erwartet wird, dass er dauerhaft auf hohem Niveau bleibt. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Fakt, dass die Juni- und Dezemberprognosen von den nationalen Zentralbanken und nicht direkt von der EZB erstellt werden. Erstere neigen zu falkenhafteren Annahmen, insbesondere was das Lohnwachstum betrifft. Dies führt zu Inkonsistenzen von einer Prognose zur anderen. Daher könnte es bei den Septemberprognosen durchaus zu Abwärtskorrekturen bei den Inflationsaussichten kommen – je nachdem, wie sich die Daten bis dahin entwickeln.
Datenabhängigkeit bleibt Regel, quartalsweise Zinssenkungen werden zur Base-Line
Die Devise der EZB bleibt unverändert: Zukünftige Entscheidungen werden von Sitzung zu Sitzung getroffen, und zwar ganz in Abhängigkeit der aktuellen Daten. Angesichts des Kalenders für Inflationsdaten und des Fokus der EZB auf die Lohndaten sind quartalsweise Zinssenkungen jeweils zu Prognosesitzungen wahrscheinlich. Im September und Dezember dürften daher die nächsten beiden Termine anstehen. Dass die EZB den Juli überspringt, war bereits vorher absehbar, da es an zusätzlichen Daten mangelt. Mit den aktuellen Inflationsdaten, die eine hartnäckigere Dienstleistungsinflation als erwartet zeigen, bestärkt diese Annahme nun.
Bevor sich die europäischen Währungshüter für eine weitere Zinssenkung entscheiden, werden sie weitere klare Hinweise sehen wollen und alle Nicht-Prognosesitzungen, einschließlich Oktober, überspringen. Dafür spricht auch, dass die für die Entscheidung wichtigen Lohndaten erst mit erheblicher Verzögerung – gerade rechtzeitig zu Prognosesitzungen – veröffentlicht werden. Insgesamt bleibt weiterhin zu erwarten, dass sowohl die Inflation als auch die Löhne nachlassen; wahrscheinlich langsamer als erwartet, aber nicht so langsam, dass sie den eingeschlagenen Trend umkehren: Weitere Zinssenkungen kommen.
Höhere Volatilität um Inflationsdaten zu erwarten
Das Treffen am Donnerstag zeichnete sich durch nahezu gedämpfte Marktreaktion aus. Im ersten Moment schien der Markt zwar auf die falkenhaften Elemente der Erklärung zu reagieren, was zunächst zu einem moderaten Anstieg der europäischen Renditen und einer Aufwertung des EUR/USD führte. Da der Markt sowohl das Ergebnis als auch das Ausbleiben weiterer Hinweise der EZB bereits erwartet hatte, fiel die Marktreaktion insgesamt zurückhaltend aus. Unverändert zur Erwartung vor der Sitzung preist der Markt rund zwei weitere Zinssenkungen für dieses Jahr ein. Vor dem Hintergrund der datengetriebenen Politik der EZB sowie des ungleichmäßigen Verlaufs der Desinflation ist es in den kommenden Monaten wahrscheinlich, dass es um die Veröffentlichungen der Inflationsdaten zu einer höheren Marktvolatilität kommt. Insbesondere, da die Gesamtinflation aufgrund von Basiseffekten bei Energie im Sommer ihr angestrebtes Ziel erreichen könnte.
Von Sandra Rhouma, European Economist – Fixed Income bei AllianceBernstein