Was ist überhaupt ein Schwellenmarkt?
Wenn es darum geht, ein Land als entwickelten Markt, Schwellenmarkt oder Frontier-Markt einzustufen, folgen Aktienanleger meist der Definition eines Indexanbieters. Bei MSCI etwa muss ein Schwellenmarkt Mindestanforderungen hinsichtlich wirtschaftlicher Entwicklung, Marktgröße und Liquidität erfüllen, aber dennoch gewisse Einschränkungen der Zugänglichkeit für internationale Investoren aufweisen, z. B. Kapitalverkehrsbeschränkungen. Frontier-Märkte liegen unterhalb der Schwellenmarktstandards.
Sonderfall China
Die Märkte auf dem chinesischen Festland (Shanghai, Shenzhen) unterliegen weiterhin Kapitalkontrollen; daher stuft MSCI diese als Schwellenmärkte ein. Unternehmen mit Sitz in Hongkong gehören hingegen zu den entwickelten Märkten, da dort vollständige Kapitalmobilität und transparente Regulierung herrscht und Zugang für internationale Investoren besteht. In Hongkong notierte Unternehmen aus Festlandchina sind jedoch im Emerging-Markets-Index enthalten.
Alles eine Frage der Definition
Anleiheinvestoren und Anleihe-Indexanbieter wie Bloomberg haben ihre ganz eigenen Einstufungen. Die Klassifizierung von Bloomberg richtet sich nach dem Einkommensniveau, der Bonität und gesamtwirtschaftlichen Stabilität des Staates und der Liquidität des Anleihemarktes. Eine Frontier-Kategorie sucht man bei Bloomberg vergeblich. Derart unterschiedliche Kriterien können dazu führen, dass Länder für Anleihen als entwickelt, für Aktien jedoch als Schwellenländer eingestuft werden. Die Indizes für Aktien- und Anleihemärkte in Schwellenländern können sich daher in ihrer geografischen Zusammensetzung deutlich unterscheiden.
Im MSCI Emerging Markets dominieren asiatische Aktien mit über 80% Gewichtung, was vor allem an den Indexschwergewichten China, Taiwan und Indien liegt. Einzelne technologisch fortgeschrittene oder wohlhabende Nationen mögen in der Kategorie Schwellenländer überraschen, doch kann dies daran liegen, dass ihre Aktienmärkte für internationale Anleger nicht vollständig offen sind.
Gewichtung der Märkte ist kein Ranking der Volkswirtschaften
Aber wie groß ist das Segment der Schwellenländeraktien wirklich? Im MSCI World All Countries Index, der sich aus Aktien aus Industrie- und Schwellenländern zusammensetzt, machen Schwellenländer derzeit 10,8% des globalen Aktienportfolios aus. In einem ausgewogenen 60/40-Portfolio entspricht das einem Referenzgewicht für Schwellenländer von 6,5%. Durch die Klassifizierung als Schwellenmarkt hat Chinas Aktienmarkt ein geringeres Gewicht als Japan, obwohl China die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt ist.
Zehn Vorurteile über Schwellenländer
Schwellenländer sind eine sehr heterogene Gruppe, und einige Länder haben sich im Laufe der Jahre stark gewandelt. Für einige wirkt der Begriff Schwellenland geradezu unangemessen. Vorurteile tragen zur Verwirrung bei:
- Schwellenland ist gleichbedeutend mit hohem Wachstum und hohen Erträge.
- Schwellenland ist gleichbedeutend mit hohem Risiko und politischer Instabilität.
- Schwellenländer sind hauptsächlich rohstoffgetrieben.
- Schwellenländer leiden immer unter einer Währungsabwertung, die die Erträge schmälert.
- Schwellenländer haben in erster Linie mit China zu tun.
- In Schwellenländern herrscht eine schlechte Unternehmensführung.
- Schwellenländer sind hauptsächlich exportgetrieben.
- Die Performance von Schwellenländern wird vollständig von Zinssätzen und vom US-Dollar bestimmt.
- Aktien aus Schwellenländern sind für institutionelle Portfolios zu volatil.
- Schwellenländern mangelt es an Innovation.
Vorurteilen auf den Zahn gefühlt
Auf (sehr) lange Sicht erwarten wir, dass sich der Gewinn pro Aktie parallel zu den Erträgen entwickelt. Zwischen 2005 und 2024, war das durchschnittliche Nettogewinnwachstum in lokaler Währung in den Schwellenländern rund 6%-punkte höher als in den Industrieländern. In Euro ausgedrückt verringert sich dieser Wachstumsvorteil auf 4%-punkte. Dabei ist zu beachten, dass die chinesische Währung in diesem Zeitraum gegenüber dem Euro aufgewertet hat.
Der eigentliche Unterschied zeigt sich, wenn wir das Wachstum des Gewinns pro Aktie (EPS) anstelle des Wachstums des Nettogewinns bewerten. Ersteres ist für einen regionalen Aktieninvestor relevanter, da es Aktienemissionen oder -rückkäufe korrigiert und ein genauerer Treiber für regionale Aktienmarktrenditen ist. Die Differenz zwischen dem durchschnittlichen EPS-Wachstum und dem durchschnittlichen Nettogewinnwachstum beträgt -5,2%-punkte für die Schwellenmärkte (EM) bzw. -0,4%-punkte für die entwickelten Märkte (DM). In Euro ausgedrückt ist das durchschnittliche annualisierte EPS-Wachstum für DM damit sogar etwas höher als für EM (+4,3% gegenüber +3,8%).
Das Vorurteil, dass EM-Aktien ein hohes Gewinnwachstum bieten, ist somit widerlegt. Schwellenländer und Industrieländer verzeichnen ein ähnliches durchschnittliches annualisiertes EPS-Wachstum, da das Wachstum bei den Schwellenländern durch Kapitalerhöhungen und Währungsabwertungen gebremst wird.
Derzeit schwanken EM-Aktien weniger, diversifizieren besser
Aktien aus Schwellenländern sind darüber hinaus – entgegen einem weiteren Vorurteil – heute weniger rohstoff- und stärker technologieorientiert. In den vergangenen zwei Jahrzehnten schwankten sie zwar im Durchschnitt stärker als Aktien aus Industrieländern; über ein Jahr hinweg ist ihre Volatilität jedoch etwas geringer. Aktien aus Schwellenländern bieten derzeit im Vergleich zu Aktien aus Industrieländern größere Diversifizierungsvorteile gegenüber einer sicheren Anlageklasse wie Euro-Staatsanleihen.
Kurz gesagt: Wer sich mit Schwellenländer-Aktien beschäftigt, sollte über vorgefasste Urteile hinausschauen und die breite Streuung der grundlegenden Daten in den Blick nehmen.
Von Carl Van Nieuwerburgh, Quantitative Equity Strategist bei DPAM
Weitere beliebte Meldungen: