Nach dem Ölpreiskollaps am 9. März 2020 konnte die exakt einen Monat später erzielte Einigung der OPEC-plus-Nationen auf gemeinsame Produktionskürzungen die Erwartungshaltung der Marktakteure nicht befriedigen. Daraufhin folgten Vermutungen über sogenannte globale Tank Tops: eine Situation, in der es keinen Platz mehr für die Lagerung von Rohöl gibt. Dies führte zu einer weiteren Preisabwärtsspirale, durch die das Geschäftsmodell der Öl- und Gasindustrie auf eine nie dagewesene Probe gestellt wurde. Von den 40% der weltweiten Rohölproduktion, die in den Händen privater Unternehmen liegen, entfällt der größte Anteil auf Nordamerika. Deshalb ist eine Auseinandersetzung mit diesem Markt für Anleger, die sich für Unternehmensanleihen aus der Öl- und Gasindustrie interessieren, sinnvoll.
Förderkapazitäten werden bereits verringert
Die großen Dienstleistungsunternehmen der Öl- und Gasindustrie haben bereits ihre Auftragslage angepasst, da sie in diesem Jahr von einem Rückgang des Fördervolumens von 50% für Nordamerika und von 10% bis 20% global ausgehen. Entsprechend werden nordamerikanische Fördergesellschaften ihre Ausgaben um bis zu 50% zurückfahren müssen, da diese Unternehmen am stärksten den Risiken schwankender Ölpreise ausgesetzt sind. Daher verwundert es nicht, dass eine steigende Zahl der aktiven Öl- und Gas-Bohranlagen stillgelegt wird. Hatte es noch im Frühjahr 2016 – im Zuge genereller Rohstoffpreisverwerfungen – knapp vier Monate gedauert, um einen Rückgang der aktiven Bohranlagen von 39% zu erreichen, so wurde dieser Wert in der aktuellen Abwärtsbewegung bereits binnen eines Monats erreicht.
Die bisherigen Kostensenkungen reichen aber nicht aus, um die stark gesunkenen Ölpreise auszugleichen. Zwar konnten die Produktionskosten in den vergangenen fünf Jahren um 40% bis 60% auf aktuell 30 bis 50 US-Dollar pro Barrel – je nach Standort – gesenkt werden, allerdings wird dabei grundsätzlich lediglich auf sogenannte Halbzykluskosten abgestellt. Sinnvoller wäre es, mit Vollzykluskosten zu rechnen, bei denen zusätzlich zu den Produktions- und Transportkosten auch die anteiligen Personalkosten sowie die Kosten für die seismischen Tests zur Exploration und der daran anschließenden Entwicklung der Bohrlöcher eingerechnet werden. Man sollte also von höheren Kosten ausgehen, als sie derzeit kolportiert werden.
Entscheidend für die Aufrechterhaltung der Cashflows bleibt zudem, inwieweit die Unternehmen ihre Produktion abgesichert haben und ob diese Absicherungen gehalten oder aufgelöst wurden, um kurzfristige Liquidität zu bekommen. Einer Umfrage der auf die amerikanische Öl- und Gasindustrie spezialisierten Rechtsanwaltskanzlei Haynes and Boone zufolge haben die meisten Anleihenemittenten zwischen 50% und 70% ihrer Produktion über Rohstoffswaps und -optionen abgesichert. Zudem erfordern die meisten Bankkreditklauseln, dass die Produzenten 60% bis 80% ihrer erwarteten Produktion auf einer rollierenden 12- bis 24-Monatsbasis absichern. Diejenigen, die deutlich weniger als 50% ihrer Produktion abgesichert haben, wird der massive Ölpreiseinbruch so oder so schwer treffen.
Tiefe Ölpreise zwingen wachsende Zahl hochverschuldeter Unternehmen in die Insolvenz
Grundsätzlich lässt sich ein direkter Zusammenhang zwischen der Zahl der Insolvenzanträge[1] und der Verschuldungshöhe zum Zeitpunkt der Insolvenzeinreichung erkennen. Zwischen 2015 und 2020 wurde in Nordamerika der Hochpunkt der Insolvenzanträge im Jahr 2016 mit einem Volumen von knapp 83 Mrd. US-Dollar erreicht, wovon allein rund 57 Mrd. US-Dollar auf das Fördersegment (Upstream) entfielen, in dem die durchschnittliche Verschuldung mit deutlichem Abstand am höchsten war. In jenem Jahr kamen 45% aller Insolvenzanträge aus dem Förder- und 46% aus dem Dienstleistungssegment. Dieser Effekt ist gerade in Krisenjahren besonders stark ausgeprägt und tritt in diesem Jahr erneut sukzessive auf. Allerdings gibt es auch einen Lichtblick in der Branche: Im Subsegment der Pipelinebetreiber und Transporteure (Midstream) wurden in den vergangenen Jahren kaum Insolvenzanträge gestellt. Außerdem weiteten sich dort in Krisen die Risikoprämien weniger stark aus als bei den Dienstleistungs- und Förderunternehmen der Öl- und Gasindustrie.
Weiterer Verlauf der Berichtssaison dürfte leicht positiv sein
Bis zum Ende der vergangenen Woche hat knapp die Hälfte aller für die Finanzmärkte relevanten Unternehmen ihre Ergebnisse für das 1. Quartal 2020 vorgelegt. Bislang sind die publizierten Resultate zweigeteilt, zeigen insgesamt jedoch einen positiven Trend. Die von uns entwickelte Kennzahl des Surprise-Faktors (SF) wird genutzt, um auf Basis von Ad-hoc-Kennzahlen wie dem tatsächlichen Gewinn pro Aktie und Gesamtumsatz in Gegenüberstellung mit dem Marktkonsens einen gewichteten Medianwert pro Tag und eine Prognose für den weiteren Verlauf der Berichtssaison zu erzeugen. Dabei sticht das Subsegment der Pipelinebetreiber und Transporteure mit einem durchschnittlichen positiven Wert von 6,1% heraus. Negativbeispiele sind – wie zu erwarten gewesen war – die Dienstleistungsunternehmen, die mit -22% weit unter dem aggregierten Median von +1,4% rangierten. Im Dienstleistungssegment haben bereits 75% aller Unternehmen Ergebnisse veröffentlicht und es ist nicht zu erwarten, dass sich die Zahlen dort noch deutlich verbessern werden. Die Berichtssaison begannen große Unternehmen wie Schlumberger, Baker Hughes und Halliburton, welche alle positiv überraschen konnten. Dies erklärt auch den Anstieg des Surprise-Faktors in den ersten Tagen, der im Lauf der Folgewoche ins Negative drehte und anschließend oberhalb der Nulllinie tendierte. Der weitere Verlauf der Berichtssaison dürfte etwas positiver verlaufen. Denn das Gros der Anleihenemittenten, deren Berichte noch ausstehen, setzt sich aus den stabileren Öl- und Gas-Fördergesellschaften und den Pipelinebetreibern zusammen.
Fazit: Innerhalb der massiv belasteten nordamerikanischen Öl- und Gasindustrie gibt es noch wenige etwas stabilere Anleihenemittenten, überwiegend Pipelinebetreiber und Transporteure. Dort sind in den vergangenen Jahren die Risikoprämien nicht so stark gestiegen und es gab auch weniger Insolvenzen als in anderen Segmenten der Öl- und Gasindustrie. In der aktuellen Berichtssaison konnten zahlreiche Unternehmen dieses Subsegments sogar mit soliden Resultaten noch leicht positiv überraschen. Anleger sollten auf einen möglichst hohen Anteil der Einnahmen aus regulierten Geschäften achten. Zudem können mitunter Opportunitäten bei Bonitätsstufen unterhalb des Investment-Grade-Segments wahrgenommen werden. Dies ist gerade auch bei Fallen Angels der Fall, also Unternehmen, die vom Investment-Grade- in den High-Yield-Bereich abgerutscht sind. In jedem Fall sollte man dabei jedoch auf ein Mindestrating von »BB« setzen, um die Ausfallrisiken zu begrenzen.
Benedikt Schröder, Credit Portfolio Manager, Bantleon
[1] In den meisten Fällen handelt es sich dabei um die in den USA gängigste Variante für Unternehmen nach Chapter 11 (Insolvenz zur Sanierung/Reorganisation).