Als der Börsengang der Ant Group letzten November erst einmal auf Eis gelegt wurde, war nur wenigen Investoren bewusst, dass in China damit grundlegende rechtliche und aufsichtsrechtliche Reformen eingeläutet wurden. Erst in den letzten Monaten wurde klar, wie sehr sich die Dinge ändern.
Ob „Wohlstand für alle“, eine „höhere Geburtenrate“ oder „mehr Binnenkonsum“ – Kampagnen der Zentralregierung sind in China nichts Neues. 2001 lag der Schwerpunkt noch auf Infrastruktur und Entwicklungsinvestitionen. Telekommunikations-, Öl- und Gas- sowie Finanzwerte boomten. In den 2010ern waren Konsum und Dienstleistungen das große Thema. Damals wurden die Internethändler, sozialen Medien und Online-Lebensmittellieferdienste gegründet, die heute jeder kennt.
Jetzt, wo China noch wertschöpfungsintensivere Produkte herstellt, ändert sich die Politik erneut. Statt Konsum und Internet will man jetzt hochwertige Industrieprodukte und innovative Produktionsverfahren fördern. Profitieren dürften Elektroautohersteller, erneuerbare Energien, Industrieanwendungen für das Internet der Dinge (IoT) und vor allem die strategisch sehr wichtige Halbleiterbranche.
Lokale Champions
Bei jeder Veränderung gibt es auch Verlierer. Aktien aus Sektoren wie Gaming, E-Commerce und sogar Bildung geraten unter Druck. Für unsere Themenanalysten war das zu Jahresbeginn besonders wichtig. Sie befassten sich intensiv mit Tencent und Alibaba, den chinesischen E-Commerce-Riesen, und mit Contentanbietern von Gaming bis zu Livestreaming.
Aber heißt das, dass wir uns jetzt aus China zurückziehen? Keineswegs. Aber wir schichten unsere China-Portfolios um – in Sektoren und Einzelwerte, die von der neuen Politik vermutlich profitieren.
Gerade unsere weltweiten Schwerpunktthemen 5G-Konnektivität und erneuerbare Energien dürften auch in China immer wichtiger werden. Ohne diese Branchen lässt sich Chinas neue Politik nicht umsetzen, bei der Industrieautomatisierung, Maschine-zu-Maschine-Kommunikation (M2M) und eine effizientere Energienutzung eine wichtige Rolle spielten dürften. Bei Hardware und vor allem bei Halbleitern wünscht sich der Staat Autarkie, was ebenfalls zu neuen, attraktiven Anlagechancen bei lokalen Champions in der Chipherstellung und Entwicklung führen kann.
Vorsichtige Umschichtungen
Die nötigen Umschichtungen könnten für Investoren eine Herausforderung sein.
Als wir uns erstmals mit dem Thema beschäftigten, noch vor den Ankündigungen der Regierung und den weltweiten Schlagzeilen im Juli und August, zeigte sich, dass viele lokale Anleger ähnlich vorgehen wie wir. Die Kurse der absehbaren Gewinner stiegen schnell, und Geduld hat sich gelohnt. Wegen der enttäuschenden chinesischen Konjunkturdaten und schwachen Immobilienmärkte sind die Bewertungen in den letzten Wochen attraktiver geworden. Wir setzen weiterhin auf begrenzte Umschichtungen, solange die aufsichtsrechtliche Entwicklung unklar ist.
Hinzu kommen die vielen Anlagechancen in anderen asiatischen Ländern. Das gilt für Industrieautomatisierung, das Internet der Dinge und 5G – man denke an die Robotik-Weltmarktführer aus Japan und die taiwanesischen Halbleiter- und Hardwarefirmen. Es gilt aber auch für Konsum- und Internetthemen, die in Festlandchina jetzt nicht mehr so wichtig scheinen.
Diversifikation und globale Reichweite
Wir glauben, dass sich neue Alibabas etwa in Indien oder Indonesien finden lassen. Beide Länder sind jetzt so weit wie China vor 10 oder 20 Jahren. Noch hält sich die Digitalisierung in Grenzen, aber schon jetzt entstehen lokale und regionale „Super-Apps“ für mobiles Banking, Fahrtenvermittlung, E-Commerce, Lebensmittellieferungen und mobiles Gaming.
Interessant könnte es auch sein, auf Asiens Unterhaltungsbranche zu setzen, die weltweit immer mehr Fans hat. Sicher, Südkorea ist für seine Halbleiterindustrie bekannt, aber für Millionen von Menschen weltweit gilt das Land vor allem als Heimat von K-Pop und mobilem Gaming. Ein einziges Onlinekonzert der Boyband BTS kann über 100 Millionen Zuschauer erreichen, in fast allen Ländern der Welt. Damit kann ihre Muttergesellschaft mit Online-Abonnements, Merchandise, exklusiven Inhalten und Interaktionen viele Millionen Dollar erwirtschaften. Die Kombination aus Fankultur und schnellerer Konnektivität scheint zu einem großen, wachstumsstarken Geschäft zu werden.
Fassen wir also zusammen: Zweifellos lässt die Konjunktur in Asiens größter Volkswirtschaft nach, und das Land richtet sich strategisch neu aus. Wir glauben aber, dass sich durch Industrieunternehmen der nächsten Generation neue Anlagechancen ergeben. Im übrigen Asien werden die Unternehmen unterdessen diversifizierter und globaler. Asiens Wirtschaft hängt in Zukunft wohl nicht mehr so stark vom regionalen Giganten China ab.
Yan Taw (YT) Boon, Director of Research, Asia, NB