Im Juni 2007 musste die Investmentbank Baer Stearns mehrere ihrer Hedgefonds retten. Sie hatten in die damals noch recht unbekannten, stark gehebelten Verbriefungen von Subprime-Hypotheken investiert. 16 Monate später hatte die internationale Finanzkrise die ganze Welt erfasst.
Jetzt sind die Kryptobörse FTX und ihre Tochtergesellschaften insolvent. Kundengelder von bis zu 10 Milliarden US-Dollar seien verschwunden, und nach mindestens 1 Milliarde werde noch gesucht. Der Bitcoin, der seit seinem Höchststand bereits 60% verloren hatte, ist seitdem um weitere 30% gefallen.
Übermäßige Risiken und die Veruntreuung von Kundengeldern sind zweierlei. Und doch wirft die Kryptowährungskrise seit dem plötzlichen Zusammenbruch von FTX Fragen auf. Könnte das der Subprime-Moment des Kryptosektors sein, der auch an anderen Märken eine Verkaufswelle auslöst?
Liquiditätsklemme
Das Scheitern der Kryptobörse FTX, die am 11. November Gläubigerschutz beantragte, hat ernste Zweifel an Transparenz, Regulierung und Geschäftspraxis des 1 Billion US-Dollar schweren Marktes aufkommen lassen.
Eigentlich war FTX eine Börse, an der man Kryptowährungen handeln und in sie investieren konnte. Als aber die Presse die Solvenz von FTX anzweifelte, wollten viele Kunden ihre Gelder abziehen. Wegen mangelnder Liquidität konnte die Börse die Auszahlungswünsche nicht erfüllen.
Normalerweise halten Börsen Kundengelder getrennt von anderen Aktiva, was eine solche Liquiditätsklemme verhindern soll. Doch offensichtlich hat FTX Kundenaktiva rechtswidrig als Sicherheiten für die Handels- und Investmenttochter Alameda Research eingesetzt. Als die Kunden ihre Aktiva verkaufen wollten, kam es zu einer (Schatten-)Bankpanik.
Der Vorfall hat Befürchtungen in Bezug auf andere große Kryptowährungsbörsen geweckt, von denen viele wie FTX Offshore operieren, in Ländern, die keine strengen Anforderungen an die Trennung und Sicherung von Kundengeldern haben.
Zusammenbrüche
Dennoch glauben wir nicht, dass FTX wie seinerzeit Bear Stearns eine Finanzkrise auslöst. Schließlich ist es nicht der erste große Zusammenbruch am Kryptowährungsmarkt.
Den Baer-Stearns-Moment erlebten wir vielleicht schon im Mai, als der algorithmische Stablecoin TerraUSD unter der Parität notierte. Er sollte stets genau 1 US-Dollar wert sein, war aber nur unzureichend mit liquiden Aktiva gedeckt. Das ganze Terra-Luna-System hatte damals knapp 50 Milliarden US-Dollar Marktkapitalisierung. Am Kryptomarkt wurden dann in großem Umfang Risiken abgebaut, und einige der schwächeren Anbieter mussten aufgeben. Aber das hatte auch ein Gutes: Größere Insolvenzen wie die von FTX richteten dadurch weniger Schaden an.
Der Terra-Luna-Zusammenbruch hat den diesjährigen Ausverkauf am Kryptowährungsmarkt beschleunigt. Laut CoinMarketCap ist die Marktkapitalisierung aller bekannten Kryptowährungen von fast 3 Billionen US-Dollar im November 2021 auf etwa 800 Milliarden US-Dollar gefallen.
Damit gibt es heute fünf börsennotierte Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung über der des gesamten Kryptowährungsmarktes. Das größte, Apple, hat einen dreimal so hohen Börsenwert. Aber auch mit 3 Billionen US-Dollar Volumen war der Kryptowährungsmarkt verglichen mit dem weltweit über 110 Billionen US-Dollar schweren Aktienmarkt klein.
Systemisch
Hinzu kommt, dass sich institutionelle Investoren mit einem großen Engagement an klassischen Märkten – wo Probleme deutlich folgenreicher sein können – von Kryptowährungen meist ferngehalten haben. Manche hatten ihren Kunden zwar Kryptoprodukte angeboten, wegen aufsichtsrechtlicher Bedenken und der hohen Volatilität aber meist nur sehr begrenzt.
Nach dem Fidelity Digital Assets Survey 2022 hat zwar fast die Hälfte der vermögenden Privatkunden in den letzten zwei Jahren in irgendeiner Form in Kryptowährungen investiert, aber weniger als 7% der Pensionspläne und Stiftungen – und abgesehen von Spezialisten auch nur 10% der Hedgefonds-Manager.
Nach einer Studie der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich aus dem Mai 2022 hielt sich auch das Engagement des Bankensektors in Grenzen. In einer Analyse der Risiken von Digitalwährungen warnte das Financial Stability Oversight Council des amerikanischen Finanzministeriums am 3. Oktober vor wachsenden Verflechtungen zwischen dem Kryptosektor und dem klassischen Finanzsystem. Würden sie weiter zunehmen, könnten Probleme leichter übergreifen. Es hieß aber auch, dass sich diese Verbindungen bislang in Grenzen hielten.
Auch sollte man nicht vergessen, dass die letzte systemische Krise nicht von Kryptowährungen, sondern von den vermeintlich so stabilen und langweiligen britischen Staatsanleihen ausging – weil eine kleine Zahl britischer Pensionsfonds hier übermäßig investiert ist.
Ansteckung
Fassen wir zusammen: Der Kryptowährungsmarkt ist im Vergleich etwa zum Aktienmarkt sehr klein. Die Verflechtungen halten sich in Grenzen, sodass Krisen nicht leicht auf die traditionellen Märkte übergreifen können. Nach dem Zusammenbruch von FTX dürfte es noch länger so bleiben, auch wegen der Reaktion der Aufsichtsbehörden.
FTX hatte einen großen Einstieg in Kryptowährungsderivate geplant, und langfristig vielleicht auch in traditionelle Assetklassen wie Aktien. Etablierte Börsen wie die Chicago Mercantile Exchange (CME Group) und die Intercontinental Exchange (ICE) hätte das vielleicht unter Druck gesetzt. Es überrascht nicht, dass die Aufsichtsbehörden einen solchen Einstieg jetzt doch nicht genehmigen.
Fans dezentraler Finanzinstrumente dürften weiter nach Firmen suchen, die den Markt grundlegend umkrempeln. Für Start-ups, die Platzhirschen wie der CME Group oder Visa das Leben schwer machen und glauben, sich dabei der Aufsicht entziehen zu können, sind die guten Zeiten aber wohl vorbei.
Pleiten am Kryptowährungsmarkt können Anleger sicher irritieren und für Volatilität sorgen. Doch genau das dürfte ein systemisches Übergreifen auf stärker regulierte Märkte unwahrscheinlicher machen.
Von Scott Woodcock, Senior Research Analyst – Equity Research, Neuberger Berman