In Davos ging soeben das wohl wichtigste Jahrestreffen der globalen Entscheider aus Wirtschaft und Politik zu Ende. Beherrschendes Thema in diesem Jahr: Die fortschreitende Deglobalisierung. Warum er aktuelle Analysen zur Deglobalisierung für überbewertet hält – und was ein weiteres Fortschreiten der Fragmentierung für Europa und die Energiewende bedeuten könnte, kommentiert Niall O´Sullivan, Chief Investment Officer, Multi Asset Strategies EMEA bei Neuberger Berman.
„Wir sind überzeugt, dass wir uns nicht auf eine Welt der völligen Autarkie zubewegen, sondern ganz im Gegenteil eine Trendwende sehen werden – hin zu mehr Handel bezogen auf das globale BIP. Viele Analysen, die einen starken Trend hin zur Deglobalisierung untermauern, stützen sich darauf, dass die Exporte im Verhältnis zum BIP zurückgehen. Oft wird dabei außer Acht gelassen, dass diese Entwicklungen größtenteils technischer Natur sind. So sind etwa im relevanten Zeitraum vor 2021 eine Reihe von Rohstoffpreisen deutlich gesunken, in den Handelsbilanzen schlägt sich dies wiederum als Rückgang der Exporte nieder."
Die Gefahr einer weiteren Fragmentierung bleibt dennoch bestehen:
"Einen Trend zur Deglobalisierung bleibt natürlich auch dann, wenn wir unsere Analysen um die angesprochenen Faktoren bereinigen. Dies ist sowohl auf politische als auch auf wirtschaftliche Faktoren zurückzuführen. Zum einen haben die zunehmenden Spannungen zwischen bestimmten Volkswirtschaften neue gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen, die den Handel erschweren. Zum anderen haben einige Unternehmen erkannt, welche Gefahren auf, Just-in-Time'-getrimmte Lieferketten bergen. Sie versuchen nun wichtige Produktionsschritte lokal aufzubauen, um ihre Abhängigkeit von diesen anfälligen Lieferketten zu verringern. Diese Faktoren sind real und werden wahrscheinlich auch in Zukunft den Welthandel einschränken.“
Im Umbau hin zu einer CO2-neutralen Wirtschaft sieht Niall O´Sullivan einen wichtigen Treiber, der den internationalen Handel neu beleben könnte:
„Der Weg hin zu einer CO2-neutralen Wirtschaft, lässt sich nur mithilfe des globalen Handels umsetzen. Rohstoffe und Komponenten für Batterien, Elektrifizierung und die Nutzung erneuerbarer Energien, sind eben nicht gleichmäßig über die Welt verteilt. Globaler Handel und Zusammenarbeit sind erforderlich, wenn wir die angestrebten Ergebnisse erreichen wollen.“
Dabei sieht Niall O´Sullivan insbesondere Risiken für Europa:
„Sollte sich die Deglobalisierung fortsetzen, könnte das insbesondere für Europa problematisch sein: Auf längere Sicht mit seinen ehrgeizigen Dekarbonisierungszielen und kurz- und mittelfristig mit seiner Abhängigkeit von importierten fossilen Brennstoffen. Europa wird sich auf den Welthandel verlassen müssen, um seine Ziele erreichen zu können. Eine ernsthafte Eskalation der Deglobalisierung könnten aus einer Herkulesaufgabe eine Sisyphusarbeit machen.“
Zudem sieht Niall O´Sullivan die internationalen Handelsbeziehungen als eine entscheidende Größe, wenn es um die Entwicklung der Verbraucherpreise geht:
„Wenn sich die Deglobalisierung in ihrem bisherigen Maße fortsetzt, wird sie die Inflation weiter antreiben. Sollten Unternehmen zunehmend gezwungen sein, ihre Produktion lokal auszuführen, obwohl es global effizienter gewesen wäre, gehen Wettbewerbsvorteile verloren. Infolgedessen steigen die Kosten für viele wirtschaftliche Aktivitäten.
„Sollte die Deglobalisierung zu einer längerfristig hohen Inflation führen, profitieren besonders die Unternehmen, die in der Lage sind, ihre Kosten an die Verbraucher weiterzugeben. Gleichzeitig dürfte sich die Entwicklung hin zu einer weniger effizienten Wertschöpfungskette jedoch negativ auf die Gewinnspannen der Unternehmen auswirken. Das ist einer der Gründe, warum Aktien im Allgemeinen eher vorsichtig zu betrachten sind.“
Von Niall O´Sullivan, Chief Investment Officer, Multi Asset Strategies EMEA bei Neuberger Berman