Immer mehr Marktbeobachter nannten die Teuerung in den letzten Wochen „hartnäckig“ – und als am Mittwoch die Märzzahlen bekannt wurden, kam es zu einem wahren Aufschrei.
Anleger, die noch zu Jahresbeginn mit sechs Zinssenkungen in diesem Jahr gerechnet hatten, schließen jetzt selbst weniger als zwei nicht aus. Eine erste Senkung im Juli galt lange als nahezu sicher, aber jetzt beträgt die Wahrscheinlichkeit dem Markt zufolge nur noch 50%. Danach lassen die günstigen Basiseffekte allmählich nach, und die US-Wahlen kommen näher, was den Handlungsspielraum der Fed weiter einschränken könnte.
Wir haben geschrieben, dass Investoren wegen der Normalisierung des Konjunkturausblicks wieder mehr auf Wachstum als auf Inflation achten. Die Korrelation zwischen Aktien und Anleihen sei daher wieder negativ und der Aktienmarkt würde an Breite gewinnen.
Ist all das mit den Inflationszahlen der letzten Woche vorzeitig vorbei? Wir glauben das nicht, und zwar aus zwei Gründen: Erstens könnten die Inflations- und Zinssorgen übertrieben sein, und zweitens wird die Bedeutung des Gewinnwachstums vielleicht unterschätzt.
Inflation
Aufmerksam registriert wurde vor allem, dass die Kerninflation 0,4% z.Vm. betrug, der dritte Monat in Folge mit einem ähnlich hohen Wert.
Dabei betrug die Inflation gar nicht wirklich 0,4%, sondern nur 0,359%. Wäre die zweite Nachkommastelle auch nur um einen Punkt niedriger gewesen, hätte man 0,3% ausgewiesen, so viel wie erwartet. Natürlich ist die Inflation hartnäckiger als vielfach angenommen, doch liegt das vor allem an den üblichen Verdächtigen: Die Preise für Dienstleistungen ohne Wohnkosten und die kalkulatorischen Mieten stiegen überraschend stark, während die Kern-Güterpreise weniger als erwartet zulegten. Letzte Woche zeigte sich auch, dass die amerikanischen Produzentenpreise schwächer steigen als die Verbraucherpreise. Der für die Fed wichtigste Inflationsindikator, der PCE-Index, könnte daher in zwei Wochen weniger stark zulegen.
Bei solchen Zahlen passiert es leicht, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Die Wirtschaft wächst ordentlich, und es werden viele neue Stellen geschaffen. Das Risiko einer Rückkehr zu einer wirklich problematischen Inflation scheint uns überschaubar. Noch immer glauben wir, dass die Fed die Zinsen dieses Jahr senkt – und selbst wenn nicht, trägt die hartnäckige Inflation zu einem recht hohen nominalen Wachstum bei. Für die Unternehmensgewinne kann das nur gut sein, und vielen Unternehmen hilft es, mit den derzeitigen Zinsen zurechtzukommen.
Allein in den letzten fünf Monaten ist der S&P 500 Index um 25% gestiegen. Da ist durchaus eine Pause fällig. Für eine kräftige Korrektur müssten die Langfristrenditen aber wohl deutlich über 5% steigen.
Gewinnausblick
Zu Beginn der Berichtssaison für das 1. Quartal rechnen die Analysten mit ähnlichen Zahlen wie für das 4. Quartal 2023. Erwartet werden gut 40% Gewinnwachstum für die „großen Sechs“ – NVIDIA, Meta, Amazon, Microsoft, Alphabet und Google – und knapp 30% für die Sektoren Technologie, Internethandel sowie Medien & Internet zusammen. Für die übrigen S&P-500-Werte wird hingegen mit 4% Rückgang gerechnet. Alles zusammen würde bedeuten, dass die Gewinne des S&P 500 im 1. Quartal um etwa 4% gestiegen sind.
Dabei gibt es erste Hinweise für eine größere Marktbreite. Noch im 4. Quartal 2023 wuchsen die Gewinne der großen Sechs um 25 Prozentpunkte stärker als die der Sektoren Technologie, Internethandel sowie Medien & Internet. Für das 1. Quartal 2024 wird ein nur noch halb so großer Vorsprung erwartet.
Für den weiteren Verlauf dieses Jahres erwarten Analysten ein geringeres Gewinnwachstum für die „Technologie plus“-Aktien und ein höheres für die übrigen S&P-500-Werte. Konsens ist zurzeit, dass das Gewinnwachstum der großen Sechs im 4. Quartal dieses Jahres etwa genauso hoch sein wird wie das der anderen 494 Unternehmen. Vielleicht legen die Gewinne des Index dieses Jahr dann um insgesamt fast 10% zu.
Aus unserer Sicht wäre das eine interessante Entwicklung. Eine der größten Anlegersorgen Anfang 2024 war schließlich, dass das Gewinnwachstum der Technologie-Mega-Caps nach dem sehr guten Jahr 2023 deutlich nachlässt. Jetzt scheint es, als könnten andere Sektoren die Lücke füllen.
Risiken
Und doch bleiben Risiken.
Noch lässt sich ein erneuter Inflationsanstieg nicht ganz ausschließen, vor allem angesichts der zurzeit unsicheren und konfliktgeladenen Weltlage. Und selbst wenn die extreme Zweiteilung des Aktienmarktes allmählich nachlässt, scheint die Schere zwischen den „Reichen“ und den „Habenichtsen“ – den Unternehmen mit gut gefüllten Kassen und jenen mit zu hohen Schulden – weiter auseinanderzugehen. Immer mehr Kreditkartenkredite werden nicht rechtzeitig bedient, und der Small Business Optimism Index der NFIB, der die Stimmung Tausender kleiner Unternehmen abbildet, gewissermaßen des Rückgrats der US-Wirtschaft, fiel letzte Woche auf ein 11-Jahres-Tief.
Dennoch scheint uns ein erneuter drastischer Aktienmarkteinbruch eher ein Extremrisiko zu sein. Der fundamentale Wachstumsausblick ändert sich nicht dadurch, dass die zweite Nachkommastelle der Kerninflation um einen Punkt zu hoch ist.
Von Joseph V. Amato, President and Chief Investment Officer – Equities, Neuberger Berman