Warum erzielen die Clubs der englischen Premier League (zu denen wir, aufgrund des ähnlichen Geschäftsmodells, auch Paris Saint-Germain zählen) ein so mageres Ergebnis in der Champions League? Die höchste englische Fußballliga arbeitet unter der Hypothese, dass Geld Tore schießt. Sie hat unvergleichlich viel höhere Einnahmen als die Ligen vom Kontinent. So hat allein Chelsea, ein Club, der kürzlich von einem russischen an einen amerikanischen Oligarchen veräußert werden musste, im letzten Transferfenster mehr Geld für neue Spieler ausgegeben als alle Clubs in Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland zusammengenommen. Und dennoch ist die Vorstellung der reichen Clubs auf europäischer Ebene etwas harzig. Sie kommen zwar immer wieder ins Finale, aber seit dem schmerzhaften Finale dahoam 2012 hat kein englischer Club die Champions League gewinnen können – außer, es war ein rein englisches Finale. Und nur einmal, 2019, haben es alle vier englischen Vertreter ins Viertelfinale geschafft. Wenn die besten Spieler und Trainer der Welt in der Premier League arbeiten, warum dominieren sie dann nicht auch das Spiel gegen die armen Verwandten?
ChatGPT, das von modernen Autoren heute zu beinahe jeder kniffeligen Frage herangezogen wird, bietet folgende Antworten: Erstens: In der Champions League treffen die Engländer auf furchtbar starke ausländische Teams. Zweitens: Die Engländer sind durch ihren dichten Ligabetrieb ermüdet. Drittens: Sie können nicht so gut taktisch spielen wie die etwas hinterhältigen Teams vom Kontinent. Und viertens: Die Engländer haben nicht so viel Erfahrung und sind daher nervös in großen Spielen.
Das ist alles nicht falsch, aber erfasst nicht den Kern des Problems. Der wahrscheinlichste Grund scheint mir darin zu liegen, dass die Logik der Ökonomie in einem K.-o.-Wettbewerb und insbesondere in einem Finale nicht zum Tragen kommt. In 90 oder 180 Minuten können erstaunliche Dinge passieren, die Tagesform der Stars kann gut oder schlecht sein, der Zufall kann dominieren, das Verletzungspech das taktische Geschick unterlaufen. Im Ligabetrieb, der über eine ganze Saison läuft, spielt der Zeitpunkt der relativ guten oder schlechten Leistungen kaum eine Rolle. So gleichen sich diese Unwägbarkeiten aus und gewöhnlich (d. h. außer in Berlin) setzt sich der Club mit den tiefsten Taschen durch. Aber in einem K.-o.-Spiel, wenn die Psychologie und der Wille plötzlich wichtiger sind als Technik und Strategie, liegt die Wahrheit auf dem Platz und nicht im Planungsbüro.
Ähnlich verhält es sich mit den Finanzmärkten. Kurzfristige Bewegungen – ein halbes Jahr ist hier vergleichbar mit 90 Minuten auf dem Spielfeld – sind wenig berechenbar. Die Vorhersagen der Strategen sind allzu selten brauchbar. Denn sobald sich auch nur eine der unzähligen Annahmen als nicht passend herausstellt, laufen taktische und kurzfristige Prognosen häufig ins Leere. Gleiches gilt dann, wenn Prognosen unisono in die gleiche Richtung zielen. Blättert man etwa – zu Illustrationszwecken – zu den im Dezember verfassten Jahresprognosen für 2023 zurück, so findet sich dort als Konsens, das Jahr werde ein Übergangsjahr, d. h. das erste Quartal werde wohl schwierig, aber ab dem Halbjahr würden die Märkte, in Voraussicht auf 2024, nach oben drehen. Bislang sieht es eher so aus, als würde das erste Quartal sehr gut verlaufen (der DAX verzeichnet in dem Moment, da ich diese Zeilen schreibe, ein Plus von elf Prozent seit Jahresanfang) und keine neuen Tiefststände markieren. So ähnlich verhält es sich fast in jedem Jahr mit den Vorhersagen. Nun will ich den Strategen keinen Vorwurf machen (außer diesen, dass sie sich überhaupt auf so kurzfristige Prognosen einlassen), denn durch den Versuch der Vorhersage von Marktbewegungen die Rendite zu maximieren und Verluste zu vermeiden ist ein Spiel für Verlierer. Um es zu gewinnen, müsste man wissen, wann die Masse der Anleger umschwenkt und entsprechend frühzeitig handeln. Dies kann aber offensichtlich nur den Wenigsten gelingen (wenn die Mehrheit ein- oder ausgestiegen ist, ist die Kursbewegung mangels zusätzlicher Käufer bzw. Verkäufer schon vorbei). So wenigen, dass der Erfolg einer Timing-Strategie sehr unwahrscheinlich ist. Um kurz- und mittelfristige Marktbewegungen einigermaßen korrekt vorhersagen zu können, müssten sie die bislang vom Markt noch nicht verarbeiteten Informationen sowie die Reaktion von Millionen anderen Anlegern darauf vorhersagen können. Stimmungen, geopolitische Ereignisse und volkswirtschaftliche Daten können sich schnell wandeln, jedenfalls zu schnell und konsistent (und nicht nur vereinzelt, zufällig) richtig darauf zu handeln.
So, wie ein Fußballspiel nicht nur durch Elfmeterschießen zu gewinnen ist, lässt sich auch an der Börse anders Geld verdienen als mit Timing. Hier kommen wir auf die Beobachtung aus dem Ligabetrieb zurück, dass Qualität sich zwar nicht in jedem Spiel, aber in der Liga über die Saison hinweg sich gewöhnlich durchsetzt.
Im Vergleich zu K.-o.-Runden lassen sich die Chancen auf eine Meisterschaft in der Liga durch Investition in Qualität deutlich erhöhen (Ausnahmen: Hertha, HSV, Schalke, Chelsea). Die Analogie zu den Finanzmärkten ist offensichtlich: Es kommt nicht auf das Timing an, sondern auf das Pricing. Die Aktie eines Unternehmens, das eine solide Bilanz und ein gut funktionierendes Geschäftsmodell hat, kann man kaufen, wenn man es zu einem guten (oder zumindest akzeptablen) Preis bekommt. Dabei kommt es auf die Bewertung des Unternehmens an (gemäß der alten Kaufmannsweisheit: „Der Gewinn liegt im Einkauf“), nicht auf den Zeitpunkt. Markt-Timer stellen die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt ins Zentrum ihrer Überlegungen, Investoren hingegen Bewertung und Perspektive. Letztere legen auf den Zeitpunkt des Gewinns keinen großen Wert, sie gehen davon aus, dass die Frage nach Rentabilität bei einer gut überlegten Investition über kurz oder lang positiv beantwortet wird. Eine gute Mannschaft gewinnt nicht jedes Spiel, aber am Ende doch oft genug, um in der Meisterschaft oben mitzuspielen.
Aus der Skepsis gegenüber dem Timing folgt kein ewiges Buy and Hold. Investoren machen sich durchaus über Markt- und Wirtschaftszyklen Gedanken. Erfahrungsgemäß sind Aktien etwa in vier Fünfteln der Zeit weitgehend fair bewertet und der Zyklus spielt keine große Rolle. In dem verbleibenden Fünftel tendiert die Bewertung aber zu zyklischer Über- oder Untertreibung. Diese Zeitpunkte lassen sich auf der Ebene der Marktpsychologie anhand gewisser Indikatoren festmachen. Wenn die Wirtschaft wächst und die Finanzpresse positiv berichtet, Risikofreude als sicherer Weg zum Reichtum gesehen wird, niemand seine Aktien verkaufen will oder muss, wenn Anleihen zu günstigen Bedingungen emittiert werden können, wenn Gier in der Luft liegt, dann hält sich ein kluger Investor besser zurück. Und umgekehrt ist der Boden im Markt nicht weit, wenn eine Rezession bevorsteht und die Presse darüber berichtet, wenn das Vertrauen verpufft und jede Chance als ein Risiko erscheint, wenn die Anleihemärkte einfrieren, wenn Insolvenzen sich häufen, wenn niemand mehr Wertpapiere kaufen will (weil er es kurze Zeit später schon bereuen wird), wenn eine Wende zum Besseren ausgeschlossen erscheint und die Käufer von Sparstrümpfen sich für brillant halten.
Der Unterschied zwischen Timing und Berücksichtigung des Zyklus liegt darin, dass der Timer innerhalb einiger Wochen Erfolg haben muss, während ein Investor, der den Zyklus beobachtet, auch über Quartale und Jahre hinweg Geduld haben kann. Er muss nicht nervös werden, weil er die Stärken und Schwächen der Unternehmen in seinem Portfolio kennt. Der Timer zielt auf die nächste Marktbewegung, während der Investor versucht, herauszufinden, wo er aktuell steht.
Soll ein Investor sich darauf beschränken, nur in Zeiten besonders niedriger Bewertung zu kaufen, wenn also Timing und Pricing gleichermaßen zu passen scheinen? In der Tat ist er gut beraten, den Zyklus der Märkte zu berücksichtigen. Der Zyklus ist insbesondere für die Risikosteuerung von Portfolios wichtig. Bin ich mehr oder weniger voll investiert, habe ich Anleihen guter oder schlechter Bonität übergewichtet, kaufe ich volatile Aktien noch dazu oder ziehe ich eine größere Cash-Reserve vor? Gleichwohl ist es keine gute Idee, das Nachdenken über den Zyklus zur dominierenden Investmentidee werden zu lassen. Denn Zyklen können sehr lange dauern und Preise können so lange vermeintlich zu hoch sein, dass der Investor, der das Timing des Zyklus zu beherrschen meint, jahrelang auf seinem Bargeld sitzen bleibt und nicht einmal die Zinsen und Dividenden vereinnahmt. Darüber hinaus ist zu oft die Psychologie des Zyklus uneindeutig (die Finanzpresse ist beispielsweise oft noch negativ gestimmt, während die Anleihemärkte schon wieder auftauen) und den meisten Anlegern steht ohnehin die eigene Psyche im Weg, wenn es gilt, das Geld zu investieren, obwohl die Aussichten allgemein als schlecht beurteilt werden.
Wo stehen wir heute? Die Käufer sind vorsichtig zurückgekehrt, die Aktienmärkte hatten einen unvorhergesehen starken Start ins Jahr. Aber es warnen viele Strategen noch davor, dass der Absturz noch nicht zu Ende ist, solange im Zinserhöhungszyklus nicht das Ende der Fahnenstange erreicht ist, vor allem wenn sich die Inflation doch nicht so stark abschwächen wird wie erhofft. Und der Krieg in der Ukraine ist nach wie vor für grausame Überraschungen gut. So steckt noch genügend Furcht und Schrecken in den Knochen der Investoren, dass von Überschwang noch nicht die Rede sein kann. Die Psychologie spricht für den Markt, aber die wirtschaftlichen Aussichten sind vorsichtig zu beurteilen. Das Wachstum wird im laufenden Jahr noch schwach und die Inflationsraten zu hoch sein, um ein gesundes finanzielles Umfeld zu bieten. Wir sind also weder oben noch unten im Zyklus. So gesehen ist eigentlich alles ganz normal.
Von Dr. Georg von Wallwitz, Geschäftsführender Gesellschafter, Lead Portfoliomanager, Eyb & Wallwitz