„Die besten Propheten sind solche, die gut erraten können“, zitierte Alexander der Große den Dichter Euripides (Fragment 973), als die Wahrsager der Chaldäer ihn überzeugen wollten, nicht in Babylon einzumarschieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte er fast die ganze damals bekannte Welt, das gewaltige Perserreich, Indien und Ägypten, erobert und wurde das Gefühl nicht los, einen richtigen Lauf zu haben. Also nahm er die Stadt ein, die für ihn an Größe und Bedeutung allenfalls den Rang einer Fußnote zu haben schien. Sie wurde aber zu einer Endnote. Denn Alexander starb kurz nachdem er die Stadt erobert hatte, dort an einem Fieber (vermutlich Malaria, sodass wir davon ausgehen können, dass der größte Eroberer aller Zeiten von einer Mücke getötet wurde), wie uns Appian überliefert (Bürgerkriege 2.153).
Nun mag es sein, dass es grundsätzlich keine gute Idee ist, in Babylon (dem heutigen Irak) einzumarschieren, das haben bis in die jüngste Vergangenheit gut bewaffnete Großmächte immer wieder feststellen müssen. Uns interessiert an dieser Stelle eher die Frage: Hat Alexander einen vermeidbaren Fehler gemacht? Oder wurde er nur Opfer widriger Umstände? Hätte er sehen können, dass Babylon ein Schritt zu viel war und dass es Zeit war, seine Positionen glattzustellen?
Wann ist der richtige Zeitpunkt aufzuhören?
In den Kontext der finanziellen Investition (oder auch Spekulation) übersetzt, lautet die Frage: Wann soll man keine neuen Positionen eingehen und vom Käufer zum Verkäufer werden? Wann ist – an der Börse wie im richtigen Leben und vor den Mauern Babylons – der richtige Zeitpunkt aufzuhören, zu kündigen, abzubrechen, wegzugehen, sich zu drehen und zu verkaufen? Wenn man an die richtigen Wahrsager gerät (von denen es auch an den Börsen einige gibt)? Wenn der Lauf zu gut ist, um wahr zu sein? Wenn das Blatt sich zu wenden beginnt?
Diese Fragen sind so wichtig, dass wir der alten Kaufmannsweisheit „Der Gewinn liegt im Einkauf“ den Nachsatz hinzufügen möchten: „Und der Verkauf ist die Krönung.“
Seit Oktober sind die Aktienkurse fast überall (außer in China) phänomenal auf Allzeithochs gestiegen. Und wann, wenn nicht bei den höchsten Kursen aller Zeiten, sollten Investoren ihre Gewinne realisieren? In der Tat gibt es, wie immer, Warnsignale: Der Anleihenmarkt (eine Art Chaldäischer Wahrsager für Aktionäre) signalisiert höhere Zinsen als erwartet und das ist kein gutes Signal für einen müde wirkenden Markt, der seine gute Entwicklung ohnehin nur einer kleinen Gruppe von Technologieunternehmen verdankt.
Verkaufen können
Es gibt interessante Untersuchungen zu dem Thema, wie gut oder wie schlecht Fondsmanager beim Kaufen und Verkaufen sind. Dabei stellt sich heraus, dass sie recht gut darin sind, die richtigen Aktien für Neuinvestitionen zu finden. Diese Positionen schlagen in der Regel den Markt. Genau umgekehrt verhält es sich bei Verkäufen: In der Regel verkaufen Fondsmanager Aktien, die sich anschließend besser entwickeln als der verbleibende Rest des Portfolios. Was sie mit den guten Kaufentscheidungen verdienen, verspielen sie oft beim Verkauf.1
Es lässt sich trefflich über die Gründe spekulieren. Eine große Rolle spielt der Besitztums-Effekt (Endowment-Effekt), der dazu führt, dass die Wertpapiere im Portfolio deutlich emotionaler betrachtet werden. Wir denken rationaler über Käufe (von etwas, das wir nicht haben) nach, als über Verkäufe (von etwas, das wir haben). Eine hübsche Illustration dieses Effekts ist die Geschichte eines Ökonomie-Professors, der niemals einen Wein für mehr als 30 Dollar pro Flasche getrunken hat: Eines Tages kaufte er sich einige Kisten von einem Tropfen für 20 Dollar pro Flasche. Wenige Jahre später bot sein Händler ihm an, den Wein für 70 Dollar pro Flasche zurückzukaufen. Der Ökonom lehnte ab. Ebenso, als ihm irgendwann 200 Dollar geboten wurden. Obwohl er also keinem Wein einen Wert von über 30 Dollar zuschreiben wollte, machte er eine Ausnahme, als es sich um seinen Besitz handelte. Was wir haben schätzen wir höher ein, als was wir nicht haben.2
Verluste realisieren heißt Fehler einzugestehen
Ein häufig zu beobachtendes Phänomen ist in diesem Zusammenhang auch die Verlustaversion, die daher rührt, dass wir Verluste emotional stärker gewichten als ebenso hohe Gewinne. In der Praxis führt dies bei Privatinvestoren (aber sicher auch bei schlechten Fondsmanagern) dazu, dass sie Gewinne mitnehmen, aus Furcht, diese wieder abzugeben. Umgekehrt suchen sie das Risiko, wenn sie hinten liegen, getrieben von der Hoffnung, dass das Blatt sich wendet und sie den Verlust nicht realisieren müssen. Im einen Fall verkaufen sie ihre Gewinner zu früh, im anderen halten sie an ihren Verlierern lieber fest, als sich ehrlich zu machen und den Fehler einzugestehen.3
Dabei ist es, um hier einen sonnenklaren Bericht zu geben, völlig irrelevant, ob man ein Wertpapier oder ein sonstiges wirtschaftliches Gut teurer oder billiger gekauft hat, als es gegenwärtig gehandelt wird. Ich habe schon lange aufgehört, mir Einstandskurse zu notieren, das lenkt nur ab. Einzig die zukünftige wirtschaftliche Perspektive zählt bei der Entscheidung über Kauf oder Verkauf.
Aufmerksamkeit zwischen Kauf und Verkauf ungleich verteilt
Viel deutet darauf hin, dass Portfoliomanager unterschiedlich über Käufe und Verkäufe denken und der jeweiligen Entscheidung unterschiedlich viel Aufmerksamkeit schenken. Oft konzentrieren sie sich darauf, die nächste großartige Idee zu finden (oder sie jedenfalls nicht zu verpassen). Dann sehen sie den Verkauf vor allem als Möglichkeit, Geld für Käufe zu beschaffen, also als nachgeordnetes Problem. Auf Unternehmen, die man schon lange im Bestand hat, verwendet man selten so viel kritische Aufmerksamkeit wie auf mögliche Zukäufe.
So spielt bei Verkäufen auch die Wertentwicklung eine rational nicht zu erklärende Rolle: Papiere, die hohe Gewinne aufweisen, werden deutlich häufiger verkauft (d.h. Gewinne werden mitgenommen), als solche, die sich eher durchschnittlich entwickelt haben. Besonders gerne bleiben Investoren auf Wertpapieren sitzen, die sie zu einem höheren als dem aktuellen Kurs gekauft haben. Anleger wollen die Verluste nicht realisieren. Bevor sie sich den Fehler eingestehen, legen sie lieber nach und werfen das gute Geld dem schlechten hinterher. Rational erklärbar ist dies nicht, aber diese Erkenntnis wird niemanden schockieren, der die Börse unter anderem als ein soziales System begreift.
Portfoliomanager haben viele Methoden entwickelt, um bessere Verkaufsentscheidungen herbeizuführen. Etwa gibt es die Übung, alle Werte im Portfolio zu verkaufen und das Geld dann neu anzulegen, mit frischem Blick. Aber es hat sich gezeigt, dass dies kaum eine Wirkung erzeugt, denn die Portfoliomanager kaufen doch immer wieder dieselben Titel, an deren Besitztum sie sich gewöhnt haben.
Regeln des Glücksspiels gelten nicht an der Börse
Ebenfalls von geringem praktischem Wert sind Alte-Fondsmanager-Weisheiten wie „Quit while you are ahead“ oder „You never lose your shirt by taking profits“. Diese Regeln machen nur Sinn in Glücksspielen, wie etwa beim Roulette, wo niemand auf das Anhalten einer Strähne vertrauen kann und technisch gesprochen der Erwartungswert negativ ist. Hier gilt es, den Glücksgöttern zu danken, sobald man vorne liegt und das Geld vom Tisch zu nehmen. Ein Fondsmanager befindet sich aber nicht in einem Nullsummenspiel und die positive Entwicklung eines Unternehmens und damit der Aktie kann Jahrzehnte lang anhalten. Investoren, die sich als Eigentümer einer Firma begreifen, wissen das.
Eine bessere Methode scheint zu sein, Stop Loss- und Take Gain-Orders vorzubereiten. Wenn eine Firma bis zu einem gewissen Zeitpunkt gewisse Ziele nicht erreicht und sich spürbar schlechter als erwartet entwickelt hat, so kann dies als K.O.-Kriterium für eine Investition dienen. Allerdings sind solche Performance-Ziele nicht statisch, denn Unternehmen und Märkte sind lebendige Organismen. Diese Technik bietet sich also nur für Investoren an, die ihre Investments gut kennen und die Geschäftsberichte und Analysen lesen.
Tiefergehende Analysen, selbstgemacht oder aus vertrauenswürdiger Quelle eingekauft, sollten ohnehin jede Investition begleiten, so unsicher wie alle in die Zukunft gerichteten Aussagen sind. Keine Wahrsager zu befragen ist ja auch keine Lösung, wie wir schon bei Cicero lesen. Als die Spartaner das Orakel des Jupiter von Dodona vor der Schlacht von Leuctra 371 v. Chr. befragten, so berichtet der römische Staatsmann, „stieß der Hausaffe des Königs der Molosser die Urne mit den Losen und die anderen Orakel-Utensilien um und verstreute sie auf dem Boden.“ (De divinatione 1.76) Die Spartaner zogen ohne belastbaren Orakelspruch zu Felde und verloren die Schlacht, die seither als der Anfang vom Ende ihrer Herrschaft über Griechenland gilt. Ironie des Schicksals, größter Profiteur des orakellosen Feldzugs war in dieser Hinsicht Philipp von Makedonien, der Vater Alexanders des Großen, der bald die Macht in Hellas an sich riss.
Für Alexander gab es nach der Einnahme von Babylon, nichts Nennenswertes mehr zu erobern. Was macht aber ein Welteneroberer, wenn er die Welt erobert hat? Meditieren? Yoga mit seinen neu hinzugekommenen Untertanen in Indien? Mit einer Kleopatra in Ägypten durchbrennen? Nein, das wäre nichts für ihn gewesen. Er war nicht der Typ, der sich von einmal eingegangenen Positionen trennen konnte – ein Mann ohne Verlustangst. Auch die Schicksalsgöttinnen wussten wohl, dass er zu rastlos war, um jemals aufzuhören, und so erlösten sie ihn, mit Hilfe einer Mücke.
Von mit Plan zu nach Plan
Wesentlich ist jedenfalls, mit einem Plan und einem Bild in die Zukunft zu gehen. Pläne, die in Krisensituationen entwickelt werden, sind in der Regel das Pergament oder Papier des hektischen Wahrsagers nicht wert. Das gilt für Börsencrashs nicht weniger als für Berufs- und andere Beziehungskrisen.
Um es für Anleger, Investoren und gebildete Spekulanten auf den Punkt zu bringen: Macht euch rechtzeitig ein eigenes Bild, lest Geschäftsberichte und Bilanzen (und ab und zu die Kommentare von wahrsagenden Analysten). Verwechselt keinesfalls Einstandskurse mit einem Plan. Richtet euer Interesse auf die Zukunft und überschätzt nicht die Vergangenheit. Dann und nur dann werdet ihr nicht das Opfer einer Mücke, sondern informierte Verkaufsentscheidungen treffen.
Von Dr. Georg von Wallwitz, Geschäftsführender Gesellschafter Eyb & Wallwitz
1 Vgl. etwa Akepanidtaworn, Klakow and Di Mascio, Rick and Imas, Alex and Schmidt, Lawrence, Selling Fast and Buying Slow: Heuristics and Trading Performance of Institutional Investors (September 1, 2019). Abgerufen bei SSRN: https://ssrn.com/abstract=3301277
2 Es lässt sich auch zeigen, dass Menschen auf Informationen über ein Gut, das sie besitzen, extremer reagieren als auf die gleichen Informationen über ein Gut, das sie nicht besitzen: Besitz führt zu optimistischeren Überzeugungen nach Erhalt eines positiven Signals und zu pessimistischeren Überzeugungen nach Erhalt eines negativen Signals. Vgl. Hartzmark, Samuel M. and Hirshman, Samuel and Imas, Alex, Ownership, Learning, and Beliefs (December 20, 2020). 10th Miami Behavioral Finance Conference, Abgerufen bei SSRN: https://ssrn.com/abstract=3465246
3 Heimer, Rawley and Iliewa, Zwetelina and Imas, Alex and Weber, Martin, Dynamic Inconsistency in Risky Choice: Evidence from the Lab and Field (February 22, 2021). Abgerufen bei SSRN: https://ssrn.com/abstract=3600583