Deutschland hat gewählt. Die rasche Bildung einer Koalition aus Union und SPD ist vor allem mit Blick auf die derzeitigen geopolitischen Herausforderungen und Umwälzungen zentral. Investoren blicken derweil vor allem auf die wirtschaftspolitischen Weichenstellungen im Inland und deren Folgen für Wirtschaft und Finanzmarkt. Dabei wurden schon einige Vorschusslorbeeren verteilt. So ist der Jahresauftakt an den Börsen überraschend positiv verlaufen. Vor allem die Aktienmärkte haben neue Höchststände erreicht. Auch die Anleihenmärkte haben zugelegt, wenn auch weniger stark als im Vorjahr. Überraschend ist dabei vor allem die positive Entwicklung der europäischen Kapitalmärkte, denn diese passt so gar nicht zur schwachen konjunkturellen Entwicklung. Für Anleger stellt sich nach der Wahl in Deutschland einmal mehr die Frage, ob der alte Kontinent tatsächlich vor einem Comeback steht oder ob sich die derzeitige Rallye am Markt als Strohfeuer entpuppen wird.
Ausgangslage: Hoher Druck von innen und außen
Die deutsche Wirtschaft steht nach der Bundestagswahl unter hohem Druck, der sich spätestens seit der Finanzkrise schrittweise aufgebaut hat. Von innen wie von außen. Das Wachstumspotenzial ist kontinuierlich gesunken und liegt nur noch bei etwa 0,5%. Tendenz weiter fallend. Die derzeitige Schwäche ist also kein temporäres Problem, sondern der „Normalzustand“. Ursächlich für diese säkulare Verlangsamung sind tiefgreifende Probleme aller Produktionsfaktoren. Der demografische Druck auf den Arbeitsmarkt, der erodierende Kapitalstock und die zu geringe Innovationsdynamik. Die Wirtschaftspolitik hat sich bisher nicht energisch genug gegen diese Trends gestemmt, sondern lediglich versucht, die Folgen für die Bevölkerung und die Unternehmen abzufangen – mit einer Art Vollkaskoversicherung. Mit dem Wegfall von Sonderfaktoren wie dem niedrigen Zinsumfeld oder den Nachholeffekten der Corona-Krise sowie den jeweiligen Rettungstöpfen treten diese Probleme zunehmend klarer zutage. Gleichzeitig steigt der Druck von außen. Die zunehmend aggressiv ausgerichteten Außenhandelspraktiken in den USA und China sowie der Ausfall Russlands als Energielieferant stellen das exportorientierte Geschäftsmodell in Frage. Und die neuen geopolitischen Realitäten erfordern erhebliche finanzielle Mittel zur Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit.
Reformagenda: Was jetzt zu tun wäre
Notwendig wären mutige Reformschritte in vielen Bereichen. Die Produktionsfaktoren müssen wieder gestärkt werden. Hierzu gehören eine deutliche Steigerung der öffentlichen Investitionen und starke Anreize für private Investitionen, um die Infrastruktur und den Kapitalstock insgesamt zu erneuern und zukunftsfest zu machen. Gleichzeitig braucht es eine klare Akzeptanz des sektoralen Wandels in der Weltwirtschaft und eine stärkere Ausrichtung der deutschen Wirtschaft auf die globalen Wachstumstrends, etwa in der digitalen Welt und im Gesundheitssektor. Ebenso dringend ist eine zukunftsorientierte Reform der Renten- und Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, zu der auch eine aktive Migrationspolitik gehört. Ziel dieser Maßnahmen muss eine Steigerung des Arbeitsvolumens sein. Hinzu kommen eine Stärkung und Diversifikation von Handelsbeziehungen und Lieferketten und die mutige Weiterentwicklung des europäischen Rahmens. Das kann nicht allein die Wirtschaftspolitik leisten. Sie kann aber jeweils wichtige Impulse geben. Hinreichend sind diese Reformen dennoch nicht. Denn auch gesellschaftlich muss ein grundsätzliches Umdenken stattfinden. Haushalte und Unternehmen haben sich zu sehr an die Unterstützung durch den Staat gewöhnt und sehen dessen Wirken gleichzeitig immer skeptischer. Mehr Eigenverantwortung ist unabdingbar. „Mehr Schumpeter wagen“ gilt damit nicht nur für die Wirtschaftspolitik. Nur wenn das gelingt, werden Deutschland und Europa auch mittelfristig wieder attraktiv für in- und ausländisches Kapital.
Was heißt das für Investoren?
Als Anleger sollte man sich dieser großen Herausforderungen bewusst sein. Die Euphorie an den europäischen Börsen könnte schon bald einem Realitätscheck unterzogen werden, unabhängig vom Ausgang der Wahl in Deutschland. Die günstigen Bewertungen sind eine notwendige Voraussetzung für einen Neustart – hinreichend sind sie nicht. Denn im internationalen Vergleich bleibt die Entwicklung der Gewinnaussichten der Schwachpunkt. Solange Reformen nur schleppend angegangen werden und die Vollkaskomentalität dominiert, bleibt Europa für Investoren vor allem auf der Anleihenseite interessant.
Von Dr. Johannes Mayr, Chefvolkswirt bei Eyb & Wallwitz