Es mag schwer sein festzustellen, wo wir im Börsenzyklus stehen. Aber es ist nicht unmöglich, die Treiber hinter den größeren Bewegungen an der Börse anzugeben und ob sie wenig oder mehr wahrscheinlich sind. Teure Börsen tendieren dazu, irgendwann wieder billiger zu werden, und umgekehrt. Wenn die Zeitungen gute (oder schlechte) Nachrichten über die Börse prominent platzieren, kann man davon ausgehen, dass genau diese Nachrichten in den Kursen enthalten sind und vielmehr ein Wendepunkt bevorsteht. Gerade wenn die Unternehmensgewinne überraschend steigen, wenn die Kreditvergabe locker ist, wenn die Mehrheit davon ausgeht, dass es nur besser werden kann, wenn FOMO (Fear of missing out) und TINA (There is no alternative) über die Gemüter herrschen, wenn jede Marktschwäche bedenkenlos gekauft wird, dann ist es Zeit für Vorsicht. Wenn es der Wirtschaft dagegen schlecht geht und die Unternehmensgewinne unter Druck sind, wenn Risikoappetit als Dummheit gilt, wenn die Refinanzierung von Krediten stockt, wenn die Crash-Propheten ihre Bücher endlich wieder gut verkaufen, wenn das Misstrauen weit verbreitet ist und die (Bild-)Zeitungen von Krise schreiben, dann sollten Investoren nach Kaufkursen Ausschau halten. Wann es so weit ist und wie weit und wie schnell die Bewegung dann geht und wann sie ihren Wendepunkt erreicht, ist bedauerlicherweise unmöglich vorherzusagen. Dafür sind die Zyklen zu stochastisch.…
Mit Kondratjew den Markt verstehen
In dieser unordentlichen Situation scheint es lediglich in den langfristigen Entwicklungen Ordnung zu geben, u.a. in den großen Zyklen von Kondratjew. Die langen Zyklen, die sich oft über eine Generation erstrecken, sind sehr viel einfacher zu beschreiben als die kurzfristigeren Bewegungen und Konjunkturschwankungen. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs wurde die wirtschaftliche Entwicklung von der Verbreitung von Dampfmaschinen (Eisenbahn) und Elektrifizierung getrieben. Von den 1920er-Jahren bis in die späten 1960er-Jahre (unterbrochen durch die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg) wurde die Entwicklung von Automobil-, Erdöl- und Chemieindustrie geprägt. Von den 1980er-Jahren bis zum Ende der 2000er-Jahre dominierten die Produktivitätsgewinne durch die Computerisierung und die Industrialisierung Chinas. Und seit der Mitte der 2010er-Jahre scheint es einen erneuten Aufschwung zu geben.
Nothing ever happens
Die langen Zyklen sind aber wenig relevant für das Tagesgeschäft an der Börse… Das Durchschauen der Stimmungs-, Nachrichten- und Gewinnzyklen wird neuerdings unter dem Schlagwort „Nothing ever happens“ zusammengefasst. Der dramatische Zinsanstieg seit 2022 hat – zumindest am Aktienmarkt – keine Spuren hinterlassen. Der Markt ließ sich auch nur für kurze Zeit beeindrucken von den Zollankündigungen der US-Regierung. Es wird nicht so schlimm kommen. Auch durch die Kriege im Nahen Osten und der Ukraine ändert sich nichts. Auch durch Trump ändert sich nichts, weder die USA, noch die NATO, noch das Abendland gehen unter. Und für China liegen die Probleme heute genauso wie vor zwei Jahren. Also hat auch der Dollarverfall keine dramatischen Ausmaße. Er ist noch immer deutlich teurer, als er es nach der Kaufkraftparität zum Euro sein sollte. Auch US-Staatsanleihen werden, trotz aller Unkenrufe zum Thema Inflation und Staatsverschuldung, nicht massenhaft verkauft. Die Finanzmärkte sagen zur gegenwärtigen Situation: Viel Rauch, wenig Feuer, business as usual.
Mitte der 2010er setzte der KI-Zyklus ein
Schaut der Investor durch die kleinen Aufregungs-Zyklen, so stellt er fest: Seit etwa 10 Jahren läuft, wenn wir uns der Kondratjew-Logik anschließen, ein zweiter Digitalisierungs-Zyklus, den wir vielleicht auch den KI-Zyklus nennen können. Dieser Zyklus ist nicht neu, aber wenn es sich um einen großen Zyklus handelt, dann wird er noch eine gute Weile anhalten. Es handelt sich um die Neuauflage des alten Themas Software eats the world. Was macht der Markt daraus? Die KI-Hausse geht weiter… Für die Optimisten am Markt verspricht KI ein Produktivitätswunder, das das US-Wirtschaftswachstum ankurbeln und vor steigenden Defiziten und Schulden bewahren könnte. Sie blicken auf diese rosige Zukunft und interessieren sich weder für den Hinweis, dass nach wie vor unklar ist, ob und wie die gewaltigen Investitionen der Gegenwart sich einigermaßen rentieren werden, noch für die Warnungen vor wirtschaftlichen Problemen gegen Jahresende, wenn die Kosten der US-Politik langsam in den Zahlen ankommen.
Nothing ever happens. Until it does
Kurzum: Der KI-Zyklus wird uns noch lange erhalten bleiben, bevor der technologische Frühling in einen finanziellen Herbst übergeht. In der Zwischenzeit wird es immer wieder Phasen der Unsicherheit geben, ob die Erwartungen nicht doch zu hoch sind, wer am Ende von den Investitionen profitiert und ob die Schuldenwirtschaft des amerikanischen Staates nicht doch auf tönernen Füßen steht. Bis zum Beweis des Gegenteils gilt aber: Nothing ever happens. Until it does.
Von Dr. Georg von Wallwitz, Gründer und Geschäftsführender Gesellschafter Eyb & Wallwitz
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